Serie Friedliche Revolution

Das Leipziger Modell

Carl-Friedrich Höck11. Juni 2019
Wolfgang Tiefensee
Wolfgang Tiefensee (Aufnahme von 2017) war von 1998 bis 2005 Oberbürgermeister von Leipzig und später Bundesverkehrsminister. Heute führt er die Thüringer SPD als Vorsitzender.
Die Friedliche Revolution hat in Leipzig begonnen und die Stadt verändert. Der langjährige Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee erinnert sich an eine Zeit des Aufbruchs in der Kommunalpolitik, in der vieles möglich schien.

An einem Montagabend leiten die Bürger in Leipzig das Ende der SED-Diktatur ein. Es ist der 9. Oktober 1989 und in der Stadt herrscht Anspannung. In den vergangenen Wochen sind immer zahlreicher Menschen zu den Demonstrationen geströmt, die sich aus den Friedensgebeten in der Nikolaikirche entwickelt haben. Am Montag zuvor waren es schon 20.000 Menschen, die für demokratische Reformen protestiert haben. Die herrschende SED macht das nervös. Was viele ahnen, aber kaum jemand weiß: Die Staatsmacht plant, den Protest gewaltsam zu zerschlagen. Der Historiker Rainer Eckert schreibt später, es habe eine kritische Masse von 30.000 Demonstrierenden gegeben. An diesem 9. Oktober kommen 70.000. Zu viel für die Einsatzkräfte. Die Demonstration verläuft friedlich. Wenige Wochen später ist die Mauer gefallen und die SED-Diktatur Geschichte.

Warum Leipzig?

Dass die Revolution in Leipzig begann, ist kein Zufall. Die Gebäude verfielen zunehmend, noch rasanter als in der Hauptstadt Berlin. „Die Flüsse waren verseucht, die Luft war rußgeschwängert“, erinnert sich der spätere Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee. Schon vor der Revolution sammelten Bürger Unterschriften für eine saubere Pleiße und übten so den Widerstand. Prägend war auch die aktive Kirchenszene, die sich früh mit gesellschaftspolitischen Themen befasste.

Mit dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft begann auch kommunalpolitisch eine Zeit der Umbrüche. Die Stadtverordnetenversammlung löste sich im Januar 1990 selbst auf, das neue Kommunalparlament wurde erst im Mai gewählt. Deshalb übernahm ein Runder Tisch die Funktion der Bürgervertretung. Solche Gremien bildeten sich Ende 1989 auf allen staatlichen Ebenen, oft moderiert von Kirchenleuten. Regierungsvertreter und Opposition saßen sich hier auf Augenhöhe gegenüber, um zu besprechen, wie es jetzt weitergeht. In Leipzig war der Runde Tisch besonders einflussreich: Er besetzte sogar einen Teil der Dezernenten-Posten neu. Unter anderem mit Wolfgang Tiefensee, Elektroingenieur an der Technischen Hochschule und in der Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ engagiert, der nun plötzlich für den Bereich Bildung zuständig war.

Lange Debatten am Runden Tisch

„Am Runden Tisch ist das Spannende, dass die unterschiedlichsten Gruppierungen mit jeweils einer Person am Tisch saßen. Die CDU und SPD ebenso wie der Weiße Ring. Da wurde alles, was kommunalpolitisch auf der Agenda war, stundenlang diskutiert“, erinnert sich Tiefensee. Die Sitzungen hätten mindestens sieben Stunden gedauert. „Es saßen etwa 35 Leute mit am Tisch, und jeder hat zu allen Themen mitdiskutiert.“

Als erstes musste der Runde Tisch sich damit befassen, Arbeitsämter einzurichten. „Von 120.000 Industriearbeitsplätzen blieben im Verlauf der folgenden Monate noch etwa 10.000 übrig“, sagt Tiefensee. Als es dann wieder ein gewähltes Stadtparlament gab, ging es unter erschwerten Bedingungen weiter. Der im Mai 1990 gewählte Oberbürgermeister konnte zeitweise seine Beschäftigten nicht bezahlen. Der alte Staat war in Auflösung begriffen, die Bundesrepublik als Ansprechpartner überfordert. „Es gab ein Ministerium in Bonn, das sich mit den Fragen der Wiedervereinigung beschäftigen sollte“, resümiert Tiefensee heute. „Aber als sie die Schublade aufgezogen haben, lagen keine Pläne darin für den Fall, dass sie wirklich einmal eintritt.“

Konsens statt Mehrheit

Dafür half ein Kommunalpolitiker aus dem Westen der Stadt beim Neuanfang. Der Sozialdemokrat Hinrich Lehmann-Grube aus der Partnerstadt Hannover ließ sich eigens noch in die DDR einbürgern, um als Oberbürgermeister kandidieren zu können. Von 1990 bis 1998 lenkte er die Geschicke der Stadt. Der neue OB etablierte in der Kommunalpolitik das sogenannte Leipziger Modell. „Lehmann-Grube hat dezidiert die Meinung vertreten, dass auf kommunaler Ebene das Modell einer Koalition versus Opposition keinen Sinn macht“, sagt Tiefensee. Deshalb habe er versucht, alle Fraktionen einzubinden, deren Vorschläge und wichtigste Projekte aufzunehmen und diese auch im Haushalt abzubilden. Tiefensee führte das Modell später fort. „Zu meiner Zeit, von 1998 bis 2005, kann ich stolz vermelden, dass wir alle Haushalte einstimmig verabschiedet haben.“ Man habe mit diesem Ansatz wesentlich schneller und einvernehmlicher Entscheidungen fällen können als in anderen Städten. „Die Zeit, die man sich am Anfang genommen hat, um einen Konsens zu finden, haben wir später wieder eingespart, weil wir keine politischen Kämpfe ausfechten mussten“, erklärt Tiefensee.

Das Jahr 1990 prägte auch die ostdeutschen Dezernenten. „Wir haben unsere Erfahrungen vom Runden Tisch mitgebracht, das Demokratieverständnis war ein ganz anderes“, sagt Tiefensee. Er mochte die Nähe zur Stadtgesellschaft und die Partizipationsmöglichkeiten des Modells. „Damals habe ich sogar gehofft, dass wir vom Osten aus das Parteiensystem in Richtung Runder Tisch entwickeln können.“ Lachend fügt er hinzu: „Das war leider ein Trugschluss.“

 

Der Artikel stammt aus der DEMO-Ausgabe 01-02 2019.
Mehr zum Thema:
Wie die Friedliche Revolution Leipzig gerettet hat