Blog Aus den Bundesländern

Mehr Zeit für gute Kommunalpolitik

Christopher Fink19. Mai 2021
Christopher Fink hat selbst erlebt, was es heißt, neben dem Beruf noch ein Ratsmandat zu übernehmen.
Beruf, Familie – und dann auch noch ein kommunales Ratsmandat: Das zeitlich unter einen Hut zu bekommen ist schwer. Eine Reform der Niedersächsischen Kommunalverfassung (NKomVG) soll die Freistellungsregelung für Mandatsträger*innen verbessern.

Die Rahmenbedingungen zur Ausübung eines kommunalen Mandats haben sich in den letzten Jahren verändert. Flexiblere und moderne Arbeitszeitmodelle bedeuten für viele Arbeitnehmer*innen zwar mehr Freiheiten, brachten aber viele Mandatsträger*innen an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Der neue Gesetzesentwurf zum Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetz (NKomVG) verspricht hier klare Verbesserungen. Christopher Finck, 36 Jahre, Polizeihauptkommissar und seit 2019 Referent der SPD-Landtagsfraktion (u. a. für den Bereich Innen- und Wirtschaftspolitik) berichtet von seinen eigenen Erfahrungen als Ratsherr der Stadt Hannover.

Am 12. September ist es wieder soweit. In über 2.100 kommunalen Vertretungen stellen sich über 60.000 Niedersachsen zur Wahl. Sie alle wollen ihre Städte, Gemeinden, Landkreise oder Samtgemeinden aktiv mitgestalten und politischen Einfluss auf ihr Umfeld und das Gemeinwesen ausüben. Mit der Wahl zur Ratsfrau oder zum Ratsherrn wird sich vielen Bürger*innen eine neue und spannende Welt öffnen, denn auf keiner anderen Ebene ist das Wahlvolk von den getroffenen politischen Entscheidungen so direkt betroffen, wie auf der Ebene der Kommunalpolitik.

Woher die Zeit nehmen?

Von Idealen geprägt und demokratischen Motiven geleitet, türmt sich für viele Mandatsträger*innen nach wenigen Wochen und Monaten ein Dilemma auf: Auf der einen Seite sind sie formal ehrenamtliche Feierabendpolitiker*innen, auf der anderen Seite reift die Erkenntnis, dass die Mandatsausübung mit ­einem sehr hohen persönlichen Zeitaufwand verbunden ist und das Verständnis im Beruf und in der Familie nicht automatisch mitwächst. Zu den bis dato gültigen Erwartungen der Familie, des Bekanntenkreises und des Arbeitgebers treten nun ganz neue Anforderungen hinzu: Schnell möchte man die Komplexität der Verwaltung verstehen, sich seinen politischen Zielen widmen, der Fraktionslogik gerecht werden und sich vor allem mit den Bürger*innen sowie Vereinen, Verbänden und Unternehmen austauschen.

Auf einmal müssen Ratssitzungen, Fraktionssitzungen, Ausschusssitzungen, Aufsichtsratssitzungen, Gespräche mit Vereinen oder der Verwaltung in die bisherige Wochenplanung einbezogen werden. Zwangsläufig stellt sich vor allen in den größeren Städten und Kommunen unweigerlich die Frage, wie man dieses Pensum von zusätzlichen 10 bis 20 Stunden ­wöchentlich in sein bisheriges Leben erfolgreich integrieren kann?

Rechtsanspruch vs. Alltag

Ich selbst stand nach meiner Wahl in den Rat der Landeshauptstadt 2016 vor eben diesem Dilemma, welches zusätzlich durch das fehlende Verständnis meiner Vorgesetzten genährt wurde, die Ratsaktivitäten doch bitte in den Feierabend zu verschieben. Mehr als nur einmal gewann ich den Eindruck mich für meine aktive demokratische Pflichterfüllung entschuldigen zu müssen. Gut, dass der Gesetzgeber in §54 Abs. 2 NKomVG Nachteile und Behinderungen für Mandatsträger*innen verbietet und ihnen „für ihre Tätigkeit die notwendige freie Zeit gewährt“ – dachte ich!

Doch leider mussten ich und viele meiner Fraktionskolleg*innen feststellen, dass dieser Rechtsanspruch dem praktischen Alltag nicht standhielt und schlichtweg aus der Zeit gefallen war. Unter Verweis auf aktuelle Gerichtsurteile zum Freistellungsparagraphen wurde mir von meiner Personalabteilung immer wieder deutlich gemacht, dass das ehrenamtliche Mandat grundsätzlich nicht mit meiner Dienstpflicht kollidieren dürfe. Hierbei war ich angehalten, meinen Gleitzeitrahmen (von 06:00 Uhr bis 20:00 Uhr) voll auszunutzen. Ausgerechnet das Postulat der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, welches in den letzten Jahren viele flexible und arbeitnehmerfreundliche Arbeitszeitmodelle hervorbrachte, wurde somit zur größten Bürde und Frustrationsquelle. Es wurde – rechtlich abgesichert – erwartet, außerhalb der Kernzeit die Mandatstätigkeit in vollem Umfang nachzuholen.

Dies führte in der Konsequenz dazu, dass meine Kolleg*innen nach acht Stunden in den wohlverdienten Feierabend gingen, während ich zum zweiten Mal die Dienststelle aufsuchen und oftmals bis in den späten Abend die aufgewendete Zeit für mein Ehrenamt nacharbeiten musste. Freizeit, Erholungsphasen und wertvolle ­Familienzeit gerieten bei mir und vielen engagierten Mandatsträger*innen in Folge der antiquierten Freistellungsregelung immer stärker in die Defensive.

Bis heute können kommunalpolitisch aktive Arbeitnehmer*innen, die in Gleitzeit- oder anderen flexiblen Arbeitszeitmodellen arbeiten, keinen echten Freistellungsanspruch gegenüber dem Arbeitgeber geltend machen. Vielmehr müssen die beruflichen Arbeitsverpflichtungen, die durch Arbeitszeitkontingente festgelegt sind, im Voraus erbracht oder nachgeholt werden. Ein Umstand, der die freiwillige Bereitschaft zur öffentlichen Amtsübernahme behindert und alles andere als fördert. Insbesondere Frauen und Berufsanfänger dürften von dieser Praxis eher abgeschreckt sein. Beides Gruppen, deren Repräsentativität in den Kommunalparlamenten dringend verbessert werden muss.

Novelle in Arbeit

Dies wurde rechtzeitig vor der Kommunalwahl 2021 auch von der Landesregierung erkannt, denn mit der aktuell im Gesetzgebungsverfahren befindlichen Novellierung des Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetzes wird eine echte Stärkung und Verbesserung des Freistellungsanspruchs angestrebt. Eine langjährige Forderung der kommunalpolitischen SPD-Basis wird somit nach der aktuellen Beratung im Innenausschuss und anschließenden Beschlussfassung des Landtages im Herbst 2021 in Kraft treten.

Das von mir beschriebene Dilemma engagierter Ratsfrauen und Ratsherren dürfte somit der Vergangenheit angehören, denn künftig werden die für Vertretungs-, Ausschuss- und Fraktionssitzungen aufgewendete Zeit der Arbeitszeit tatsächlich gutgeschrieben werden können. Hierbei soll der Anspruch auf die tägliche durchschnittliche Wochenarbeitszeit einschließlich der bereits erbrachten oder noch zu erbringenden Arbeits- oder Dienstleistungen begrenzt werden. Wer also nach sechs Stunden seine Arbeitszeit um 14:00 Uhr für eine dreistündige Ausschusssitzung unterbricht, kann anschließend zu seiner Familie und muss nicht noch bis 19:00 Uhr ins Büro zurück. Im Gesetzesentwurf wurde zudem deutlich gemacht, dass es keine Mehrarbeit aus Mandatstätigkeiten geben kann.

Ehrenamt wird gestärkt

Der neue § 54 NKomVG dürfte somit zur Entlastung vieler Mandatsträger*innen beitragen und die Lust auf ehrenamtliche Politik dauerhaft befördern. Aus Gleichstellungs- und Demokratieperspektive ist diese vom Innenministerium vorbereitete Gesetzesänderung entsprechend hoch zu würdigen. Sie schützt die Mandatsträger*innen vor einer systematischen Überlastung und verbessert die Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie, Beruf und ehrenamtlichen Mandat. In einer immer beschleunigteren und verdichteteren Arbeitswelt kann die Reform des NKomVG einen wertvollen Beitrag leisten, das kommunalpolitische Ehrenamt nachhaltig zu stärken und den im September knapp 30.000 zu wählenden Mandatsträger*innen künftig mehr Zeit für gute Kommunalpolitik verschaffen.

Ich selbst werde mich nicht mehr zur Wahl stellen, da ich meiner Frau und meinen beiden Kindern nach fünf Jahren Entbehrung mehr Familienzeit versprochen habe. Zeit, die künftigen Mandatsträger*innen dank der Gesetzesänderung zur Verfügung stehen wird.

 

Dieser Text stammt aus dem Landes-SGK EXTRA Niedersachsen der DEMO und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung der SGK Niedersachsen.