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Neue Pfade begehen

Karin Billanitsch31. März 2021
In diesen Zeiten entdecken viele den Wert, von Spaziergängen an der frischen Luft.
In der Corona-Pandemie entdecken viele Menschen eine alte Gewohnheit neu: das Spazierengehen als kleine Flucht im Alltag.

In diesen Zeiten der Corona-Pandemie sind Sportvereine geschlossen, auch Fitness-Studios müssen sich den Lockdown-Regeln beugen. Der strenge Winter mit Eis und Schnee lädt nicht zum Fahrradfahren ein. Als Freizeitprogramm bleibt nun allenfalls noch das Spazierengehen an der frischen Luft als kleine Flucht im Alltag. Dass das Gehen, Wandern und Schlendern in diesen Zeiten wieder im Trend ist, darüber freut sich Bertram Weisshaar ganz besonders. Er ist gelernter Landschaftsplaner, aber schon seit vielen Jahren Spaziergangsforscher. Die Art und Weise, wie wir uns fortbewegen, bedingt ja auch zu einem wesentlichen Teil das Bild, das wir von der Stadt haben, ist Weisshaar überzeugt.

Dicht an der Welt

Wer nur ins Auto steigt, ist gefangen vom Verkehrsgeschehen. Der Fußgänger – ob allein oder zu zweit – entdeckt Dinge, auf die er auf dem Fahrrad oder im Auto nie aufmerksam geworden wäre. Außerdem ist der Rhythmus des Gehens auch die Geschwindigkeit, mit der das Gehirn sozusagen Schritt halten kann. Man kommt, um mit ­Weisshaar zu sprechen so „am dichtesten an die Welt heran“.

Spazierengehen, das war ein Luxus, den sich im 19. Jahrhundert nur leisten konnte, wer adelig oder begütert war. Schlendern im Park, das zeigte: „Ich arbeite nicht und kann es mir leisten.“ Promenieren kam im Mode, bei Adeligen und dem reichen Bürgertum. Damals wie heute gilt: Man brauchte genügend Zeit dafür. Autofahren, das heißt ja auch: schneller von A nach B kommen. Doch je schneller wir sind, desto „ärmer werden für uns die erlebte Stadt und die erlebte Welt“, weiß der Promenadologe Weisshaar. Er mag es, einfach loszugehen, Neues zu entdecken, abzuschalten und die Gedanken frei schweifen zu lassen. Dass die besten Ideen kommen, wenn man den Kopf befreit – dass wissen viele Menschen.

Zu den Spaziergängen, die sogar den Lauf der Geschichte geändert ­haben, zählt einer am 14. Juni 1989. Helmut Kohl und Michail ­Gorbatschow wird nachgesagt, dass sie an jenem Tag vor dem Abendessen in Bonn im Park des Bundeskanzleramtes zum Rhein hinunter flanierten. Als Schlüsselereignis auf dem Weg zur Deutschen Einheit hat der Kanzler das später beschrieben. Für einen ­Perspektivwechsel könnte auch im Kommunalen ein Gespräch zu zweit in der freien Natur vorteilhaft sein.

Das Maß der Dinge

Auch Kommunen können vom Fachwissen des Promenadologen profitieren. Ein paar Mal ist Betram Weisshaar gemeinsam mit dem Oberbürgermeister von Leipzig Burkhard Jung durch die Stadt spaziert. Wie breit sind die Gehsteige, wo sind Hindernisse, wo lässt es sich schön schlendern? Jung hat sich offenbar vom Enthusiasmus des Promenadologen anstecken lassen: Leipzig hat jetzt sogar einen Verantwortlichen für Fußverkehr. Was macht Fußgängerfeundlichkeit eigentlich generell aus? Weisshaar: „Geeignet ist eine Stadt, die den Menschen zum Maßstab nimmt, und eben nicht irgendwelche Fahrzeuge. Das ist das Schrittmaß, das Maß der Dinge.“