Praxisbericht

Wie eine sozialdemokratische Genossenschaft preiswerten Wohnraum schafft

Michael Schell30. Mai 2017
Michael Schell
Michael Schell auf der Baustelle in Hesseldorf
Steigende Mieten bringen auch im hessischen Main-Kinzig-Kreis weniger wohlhabende Menschen in Nöte. Eine Gruppe älterer Sozialdemokraten wollte das Problem angehen und hat sich an ein altes Prinzip der Partei erinnert: Sie gründeten die Genossenschaft „Wohnbau60plus“. Der Vorsitzende Michael Schell berichtet.

Ausgangslage:

Preiswerte Wohnungen zu bekommen wird immer schwerer. Die Renten steigen laut Rentenversicherunfg bis 2030 durchschnittlich um zwei Prozent im Jahr, aber die Mieten vielfach um 10, 15, 20 Prozent. Für junge Familien, Rentner, Alleinerziehende und Menschen, die Hilfe zum Lebensunterhalt beziehen, sind auf dem so genannten freien Markt keine bezahlbaren Wohnungen zu bekommen. Wenn die Kommunen die Kosten für den Wohnraum übernehmen müssen, werden die Haushalte der Kommunen unglaublich belastet. In vielen Kommunen gibt es Leerstände und Lücken, die sinnvollerweise geschlossen werden sollten. Aber da der „Markt“ ja nur dort investiert, wo er den größtmöglichen Gewinn erzielen kann, werden für die oben beschriebenen Zielgruppen und städtebaulichen Notwendigkeiten keine Investitionen getätigt.

Wir wollen in der Regel einfache Wohnungen schaffen, die preiswert und bezahlbar sind. Deshalb haben wir die Form einer Genossenschaft gewählt, weil dort das Prinzip „Ein Mitglied, eine Stimme“ zählt und nicht nach Kapitalanteilen abgestimmt wird. Wir bemühen uns darum, dass uns von den Besitzern Grundstücke in Erbpacht zur Verfügung gestellt werden. Da vielfach die Kommunen Grundstücke haben, hoffen wir, dass uns diese Form der Erbpacht die Anfangsinvestitionen erleichtert. Wir haben uns also zunächst an zwei Kommunen in der Nachbarschaft gewandt: Wächtersbach und Gründau im Main-Kinzig-Kreis.

Was wurde erreicht?

Die Stadt Wächtersbach zog mit. Wir suchten nach einem Grundstück und einer Herausforderung, die vom Markt nicht angenommen wurde.  Im Rahmen der Dorferneuerung gab es ein Projekt, die „Alte Schule“ in Wächtersbach Hesseldorf. Dazu später mehr. Grundsätzliche Fragen der Finanzierung konnten über die regionale Genossenschaftsbank Volksbank Raiffeisen Bank Bad Orb-Gelnhausen eG geklärt werden.

Der Genossenschaftsgedanke ist ziemlich genau so alt wie die Sozialdemokratie; rund 150 Jahre. Und die Gründer dieser Wohnbau60plus eG sind „alte“ Sozialdemokraten, die das Prinzip der Solidarität auch und gerade mit den Schwachen in der Gesellschaft leben.

Aber dann kamen die vielen Zuwanderer und Flüchtlinge. Also haben wir nach Möglichkeiten gesucht, sowohl den Markt für sozial Schwache in unserer Gesellschaft zu berücksichtigen, wie auch die Kommunen zu unterstützen bei ihrer Verpflichtung, die Zuwanderer menschenwürdig unterzubringen.

Von der Idee zur Gründung

Im Sommer 2014 kam eine unserer Genossinnen in unsere Unterbezirks-Vorstandssitzung der AG 60plus Main-Kinzig und erzählte uns: „Ich habe eine Mieterhöhung für meine Wohnung bekommen. 15 Prozent! Die letzte Rentenerhöhung war gerade mal ein Prozent. Ob ich das noch einmal so überstehe, weiß ich nicht. Da werde ich wohl ausziehen müssen. Und wo ich dann lande, weiß ich nicht.“

In unserer Betroffenheit fingen wir an,  über das Problem zu diskutieren. Dabei blieb es nicht. Wir beschlossen etwas zu tun, aber was? Es gab eigentlich nur eine Lösung: Wir müssen uns einmischen. Einmischen in den Markt der Haifische und Heuschrecken. Und wie sollte das wirkungsvoll geschehen? Wir müssen den Genossenschaftsgedanken wieder stärken! Wenn wir dafür sorgen, dass es wieder mehr Genossenschaftswohnungen in Deutschland gibt, gibt es ein Preisregulativ. Und so können auch wir einen nachhaltigen Beitrag zum Stop der wahnsinnigen Spirale der Mietpreise leisten.

Erste Schritte

Der Unterbezirksvorstand beschloss, eine Arbeitsgruppe zu gründen und diese zu beauftragen, die Gründung einer Genossenschaft voranzutreiben. Zunächst galt es, sich mit der Materie Genossenschaftswesen vertraut zu machen. Aufgrund persönlicher Kontakte konnten beim Bauverein in Halle/Saale die wesentlichen Informationen erfragt werden. Dort bekam die Gruppe auch gleich eine Mustersatzung mit. Die nächsten Punkte waren dann Lesen und Lernen, ein Beratungsgespräch beim Genossenschaftsverband und die Suche nach kompetenten Mitstreitern. Hier half uns, dass wir alle seit Jahrzehnten „Sozis“ sind und dadurch natürlich viele Freunde und Genossen kennen. Am Ende unserer Gespräche hatten wir dann die „Kernmannschaft“ zusammen.

Wichtig war es, auch und gerade in dieser Phase über unser Projekt öffentlich zu berichten und so Unterstützer und Mitstreiter zu bekommen. Unser Landrat vom Main-Kinzig-Kreis Erich Pipa konnte leicht gewonnen werden, er unterstützt aus Überzeugung den Genossenschaftsgedanken und sieht die Möglichkeiten, die genossenschaftliches Bauen und Wohnen bietet. In Gründau in der SPD-Fraktion, der ich angehöre, wurde der Gedanke aufgegriffen und unterstützt. So gibt es auch für die Phase, in der nach außen so wenig zu passieren schien, mit Hilfe der Pressearbeit Rückenwind für unser Projekt.

Die Genossenschaft legt los

Bereits nach einem guten halben Jahr nach der Idee, mit einer Genossenschaft an den Markt zu gehen, um preiswerte Wohnungen anzubieten, konnten wir am 27. Februar 2015 die Genossenschaft gründen.

Das Alte Schulhaus in Hesseldorf (Aufnahme von 2009): Hier sollen Mietwohnungen für 5,50/qm ermöglicht werden. Foto: G.Kauck - Eigenes Werk, CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/), via commons.wikimedia.org

Jetzt kam der nächste Teil der Arbeit. Wir brauchten ein Projekt und die Partner, mit denen wir das Ganze umsetzen konnten. Die Stadt Wächtersbach hat im Stadtteil Hesseldorf eine alte Schule. Seit rund drei Jahren wurde im Rahmen der Dorferneuerung diskutiert, was mit dem Gebäude und dem Grundstück geschehen soll. Es waren auch schon Mittel für die Renovierung mit Zuschüssen aus dem Dorferneuerungsprogramm geplant. Die Schule war in den frühen 60er Jahren umgebaut und aufgestockt worden. Vier Wohnungen wurden eingebaut, die mit Kohleöfen beheizt wurden. Im Obergeschoss lebt noch eine Familie.

Konzept für den Umbau der Alten Schule

Jetzt fingen die Gespräche und Diskussionen mit der Stadt Wächtersbach, dem Ortsvorsteher, dem für die Dorferneuerung zuständigen Architekten, einem industriellen Partner, einem örtlichen Architekten an.

Das Ergebnis: Keine aufwändige Erneuerung, sondern möglichst preiswerte Renovierung, um vier moderne Wohnungen zu einem Preis um 5,50 Euro pro qm anbieten zu können und um auch der noch vorhandenen Mieterin ihre preiswerte Wohnung lassen zu können. Nach dem Einholen von Kostenvoranschlägen mit einem örtlichen Architekten ging es dann um Überlegungen zur Umsetzung des Projektes.

Äußerlich: Es wird die Eternit-Verkleidung im zweiten Obergeschoss entfernt, die Wärmedämmung auf den aktuellen Stand gebracht und eine Holzverkleidung aufgebracht.

Innenbereich: Es wird eine moderne Zentral-Heizung eingebaut, die Sanitärinstallationen werden komplett erneuert, die Elektroinstallation wird aktualisiert, und was wichtig ist: Die Bäder werden in die Wohnungen einbezogen und nicht mehr wie bisher nur über das Treppenhaus erreichbar sein. In den Wohnungen werden einige Wände versetzt.

Die gute Zusammenarbeit mit der Stadt Wächtersbach

Trockenbau-Arbeiten in der Alten Schule Hesseldorf
Trockenbau-Arbeiten in der Alten Schule Hesseldorf

Um unsere Preisvorstellungen vom Mietpreis erreichen zu können, mussten wir uns von der Zusammenarbeit mit der Dorferneuerung verabschieden. Im Laufe der Verhandlungen kamen immer neue, preistreibende Vorstellungen auf uns zu. Änderungen, die nicht etwa dem Denkmalschutz geschuldet waren – denn die Alte Schule steht nicht unter Denkmalschutz – es geht auch deutlich preiswerter, wenn man nicht das Wünschenswerte, sondern das Notwendige macht.

Gleich ganz zu Anfang unserer Gespräche mit Andreas Weiher, dem Bürgermeister von Wächtersbach, haben wir uns auf etwas – leider noch – eher Ungewöhnliches geeinigt: Unsere Wohnbau60plus-Genossenschaft erhält das Gelände und die Alte Schule in Erbpacht von der Stadt Wächtersbach.

Wir waren uns einig: Erbpacht bedeutet: Das Gelände und das Gebäude bleiben im Besitz der Stadt Wächtersbach und damit auch im Vermögenshaushalt der Stadt. Aber sie muss keine Abschreibungen erwirtschaften, für die Pflege und Instandhaltung ist die Wohnbau 60plus eG zuständig.

Auch die Frage der Nutzung des restlichen Grundstückes wurde rasch einvernehmlich geregelt. Geplant sind noch weitere Wohnungen auf dem Gelände, die im Einvernehmen mit der Stadt geplant und errichtet werden. Ein Raum der unteren Ebene der Alte Schule steht auch weiter einem Verein zur Verfügung.

Das Projekt gewinnt 2015 den Dröscher-Preis

Der Arbeitskreis der AG 60plus, der sich um die Gründung der Genossenschaft gekümmert hat, hat sich mit dem Projekt „Wohnbau60plus“ im Juli 2015 um den Wilhelm-Dröscher-Preis beworben. Im Dezember 2015 auf dem SPD Bundesparteitag gelang es tatsächlich den begehrten Sonderpreis der Wilhelm-Dröscher-Stiftung zu erhalten. Das war ein Riesenerfolg!

Peter Wilhelm Dröscher kam mit seiner Frau nach Hesseldorf, um den Preis persönlich in Gegenwart von Bürgermeister Andreas Weiher und Landrat Erich Pipa zu übergeben. Der Erbbaupachtvertrag ist fertig. Die Finanzierung steht und ist mit der Genossenschaftsbank VR Bank Bad Orb Gelnhausen und der KFW-Bank auf sicherem Weg.

Fazit

Die grundsätzliche Beschäftigung mit dem Thema: „Wohnungen müssen bezahlbar sein“ führte 2013 zu einem Antrag der AG 60plus UB Main-Kinzig, der auf dem Bundeskongress der AG 60plus 2013 angenommen wurde, der das Problem beschrieb und die zuständigen politischen Gremien zum Handeln aufforderte. Ein üblicher Weg in der politischen Arbeit.

Ein Jahr später war die Mieterhöhung, unter der eine Genossin litt, der Auslöser, aus der grundsätzlichen politischen Aussage und Forderung eine Aktion mit nachhaltigen Folgen zu machen: Das Gründen einer Wohnungsbaugenossenschaft, die sich das Ziel der preiswerten Wohnungen gesetzt hat.

Weitere Projekte sollen folgen

Besonders freut uns, dass der Ortsverein Karben in der Wetterau in seinem Kommunalwahlprogramm auf der ersten Seite die zwei Programmpunkte stehen hat:

  • Gründen einer Wohnungsbaugenossenschaft
  • Schaffung von preiswerten Wohnungen

Zur Zeit sind zwei Projekte in Hesseldorf in der Planung und bereits ein weiteres in Gründau. Allerdings mit der Prämisse: Wir können wirklich nur dann unsere Preisvorstellungen durchsetzen, wenn wir den Grund und Boden nicht als Spekulationsobjekt sehen, sondern dafür sorgen, dass er bei den Kommunen im Vermögenshaushalt bleibt – mit einem Wort: Erbpacht als Spekulationsverhinderer.

Deshalb waren und sind wir als die Ideengeber auch immer noch auf der Suche nach weiteren Mitstreitern, die dieses Prinzip der Solidarität mit uns leben wollen.

Wir, die AG 60plus UB Main-Kinzig, wurden sehr rasch fündig bei den Jusos „Main-Kinzig-Bracht“, die genau wie wir sehen, dass dies keine kurzfristige Veranstaltung ist, sondern, auch sie sind von der Nachhaltigkeit der Idee genau so überzeugt wie wir. Sie sehen in diesem Projekt auch die Möglichkeit, dringend benötigten Wohnraum für Studenten und junge Familien zu bezahlbaren Preisen für fünf bis sechs Euro zu bauen.

 

Mehr Informationen
http://wohnbau60plus.de/