Blog Meine Sicht

Warum die Stadtgesellschaft eine Verantwortung hat

Pia Findeiß02. November 2021
Die Sozialdemokratin Pia Findeiß war von 2008 bis 2020 Oberbürgermeisterin der Stadt Zwickau. Die Enttarnung des NSU fiel in Ihre Amtszeit.
Vor zehn Jahren wurde der NSU enttarnt. Zwickaus langjährige Oberbürgermeisterin Pia Findeiß meint: Die Stadtgesellschaft habe eine Verantwortung, die Verbrechen nicht nur zu verurteilen, sondern sich damit auseinanderzusetzen. Die Gefahr von rechts werde noch immer verharmlost.

Das Auffliegen des Terrornetzes Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) im November 2011 hat in meiner Amtszeit von 2008 bis 2020 eine maßgebliche Rolle gespielt. Einerseits war meine Meinung bei Journalisten aus der ganzen Welt gefragt – andererseits mussten wir in der Stadtgesellschaft den Terror von rechts und die rechte Ideologie thematisieren.

Am Anfang haben alle Medien von der „Zwickauer Terrorzelle“ gesprochen. Da sehr früh bekannt war, dass nicht nur unsere Stadt betroffen war, sondern das rechte Netzwerk von Thüringen/Jena ausgehend bis nach Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und eigentlich in das gesamte Bundesgebiet reichte, habe ich mich dafür eingesetzt, dass der Begriff „Terrorzelle NSU“ verwendet wird.

NSU-Gedenkstätte in Zwickau, Schwanenteichpark. Zehn Bäume sollen an die zehn Ermordeten erinnern. Unter jedem Baum gibt es eine Gedenktafel aus Stein. Foto: André Karwath via Wikimedia Commons CC BY-SA 2.5

Gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Bereits Anfang 2012 habe ich mich an das Bundeskanzleramt und auch an die sächsische Staatskanzlei mit der Idee gewandt, die Aufklärung dieser schrecklichen Verbrechen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu betrachten. Dabei hatten wir durchaus auch ein Dokumentationszentrum im Blick. Ich habe aber auch deutlich gemacht, dass die Stadt Zwickau allein mit diesem Vorhaben überfordert wäre.

Nach meinem Kenntnisstand hat die aktuelle Koalition in Dresden vereinbart, die Aufarbeitung des NSU-Netzwerkes anzugehen. Die Oberbürgermeisterin Frau Constance Arndt erhält wohl am Donnerstag von der Staatsministerin für Justiz, Ministerin Meier, einen entsprechenden Fördermittelbescheid. Genauere Details kenne ich nicht.

Aber nochmals: Die Stadt Zwickau allein wäre bei diesem Thema überfordert. Die weiteren Ereignisse (Hanau, Halle, München, Kassel u. a.) machen deutlich, dass die Bundesrepublik ein Problem mit rechtsradikalem Gedankengut und Aktivitäten hat. Es ist eindeutig eine Bundesaufgabe, auch der Freistaat Sachsen wäre damit allein überfordert.

Gespaltenes Meinungsbild

Innerhalb der Stadtgesellschaft war und ist das Meinungsbild gespalten. Die Verbrechen des NSU werden, außer von den Sympathisanten des NSU, die es selbstverständlich wie in ganz Deutschland auch in Zwickau gibt, verurteilt.

Aber es gibt auch die Gruppe – die meiner Auffassung nach zahlenmäßig in der Mehrheit ist –  die sagt, die Verbrechen waren schlimm, aber es war doch Zufall, dass die drei in Zwickau untergetaucht waren, sie sind ja eigentlich aus Jena. Die andere Gruppe möchte, dass sich die Stadt nur noch mit der Aufarbeitung der Verbrechen des NSU beschäftigt.

Ich habe als Oberbürgermeisterin immer Stellung bezogen, dass wir als Stadtgesellschaft eine Verantwortung haben, die Verbrechen nicht nur zu verurteilen, sondern auch uns damit auseinanderzusetzen, dass offener und versteckter Rassismus doch auch in Zwickau alltäglich sind und dass alle demokratischen Kräfte dagegen aufbegehren müssen.

Ein Baum für jedes Opfer

In Zickau gab es ungefähr seit Sommer 2012 die Diskussion, wie den Opfern des NSU gedacht werden könnte. Es gab unterschiedliche Vorschläge. Ich hatte im Jahr 2019 die Idee, basierend auch auf bekannten Vorschlägen, für jedes Todesopfer des NSU einen Baum zu pflanzen. Am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus im September habe ich dann im Anschluss an meine Rede, welche ich im Schwanenteichgelände am Denkmal für die Opfer des Faschismus hielt, die Anwesenden aufgefordert, mit mir den Baum für das erste Todesopfer des NSU zu pflanzen.

Dieser wurde dann in der Nacht zum 3.10.2019 gefällt. Es war übrigens eine deutsche Eiche. Die europaweiten Reaktionen nach dieser Freveltat haben dazu geführt, dass das Thema in die öffentliche Diskussion gekommen ist. Das Pflanzen des Baumes interessierte wenige, aber das Fällen führte zu einem enormen Medieninteresse. Das Weitere ist bekannt. Wir konnten für jedes Todesopfer einen Baum pflanzen und der Gedenkort ist wichtig, vor allem auch für die Jugendlichen, und wird angenommen.

„Insgesamt bin ich von der juristischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung enttäuscht“

Seit 2019 sind im Zwickauer Stadtrat 11 AfD-Mitglieder und einer, der noch weiter rechts steht. Ich wollte das Thema im Stadtrat nicht zerreden lassen und habe deshalb außerhalb des städtischen Haushalts agiert. Die Stadtgesellschaft hat das Thema aufgegriffen und ich bzw. die Verwaltung waren nur die Impulsgeber.

Insgesamt bin ich von der juristischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung der Verbrechen des NSU enttäuscht. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat im Februar 2012 in der Gedenkveranstaltung in Berlin, an der ich auch teilnehmen durfte, versprochen, dass alles getan werde, um die Taten aufzuklären und den Hinterbliebenen zu helfen. Das ist nicht gelungen. Frau Zschäpe sitzt in der JVA Chemnitz, Herr Wohlleben ist schon wieder frei und Andre Ehmig – der bekennende Nazi, der jetzt mit seiner Familie in Kirchberg bei Zwickau wohnt – führt nach außen ein bürgerliches Leben.

Die Gefahr von rechts wird nach wie vor verharmlost. Die Ergebnisse der AfD bei der Bundestagswahl zeigen, dass in der Gesellschaft Rassismus und Fremdenhass  fest verankert sind. Die AfD-Wähler selbst müssen keine Nazis sein – aber sie wählen Nazis.

 

Pia Findeiß (SPD) war vom 1. August 2008 bis 31. Oktober 2020 Oberbürgermeisterin von Zwickau.