Geothermie

Heizen mit der „Baby“-Nordsee

Susanne Dohrn 12. September 2023
In Vorbereitung für die Fördertests und die spätere Thermalwasserförderung wurden Filterrohre eingebaut. Dafür wurde ein temporärer Bohrturm auf dem Gelände errichtet.
Hamburg will einen Stadtteil ab 2024 klimaneutral mit Tiefengeothermie versorgen: Von dem Projekt könnten auch andere Regionen in Deutschland profitieren.

Unter der Hamburger Elbinsel Wilhelmsburg herrscht in 3.500 Meter Tiefe eine Temperatur von 130 Grad Celsius. Das ist ein schier unerschöpfliches Energiereservoir, mit dem der Stadtteil über Jahrzehnte nahezu CO2-frei mit Wärme, möglicherweise sogar mit Strom versorgt werden könnte. Eine geeignete Gesteinsformation glaubte man gefunden zu haben. Das hatten Untersuchungen ergeben, bei denen mit Schallwellen die Beschaffenheit des Untergrunds geprüft wird. Doch der erste Versuch war ein Flop. Statt heißes Wasser und Sand fand man ein für Tiefengeothermie ungeeignetes Gestein. Damit hätte das 70-Millionen-Euro-Projekt, von dem der Bund 22,5 Millionen trägt, scheitern können.

Aber die Hamburger hatten Glück im Unglück. Nicht einmal halb so tief stieß man auf den Strand der Nordsee, wie er vor 45 Millionen Jahren verlief, der „Baby Nordsee“, wie Inga Moeck erklärt, Professorin für Geothermie an der Georg-August-Universität Göttingen, die das wissenschaftliche Begleitprogramm in Wilhelmsburg leitet.

Kein Rohstoff, sondern Energie

„Überall nimmt die Temperatur mit der Tiefe zu. Im Durchschnitt um drei Grad Celsius alle hundert Meter, denn die Wärme wird ständig in der Erdkruste in etwa 30 Kilometer Tiefe neu gebildet“, sagt Moeck. Nach 1.000 Metern sind es mindestens plus 30 Grad. Das ist auch in Wilhelmsburg der Fall. Dort sind es sogar 3,2 Grad pro 100 Meter.

Anders als Kohle, Erdgas, Wasserstoff oder Erdöl ist Tiefengeothermie jedoch kein Rohstoff, sondern Energie in Form von Wärme. Um die Wärme an die Erdoberfläche transportieren und nutzen zu können, ist ein Transportmedium notwendig – heißes Wasser. Doch das ist nicht in jedem Gestein in ausreichender Menge vorhanden. „Am besten eignet sich Sand, denn zwischen den Körnchen befindet sich genug Platz für Tiefenwasser“, so die Professorin. „In Wilhelmsburg haben wir in 3.500 Meter Tiefe keinen Sand gefunden, sondern Ton, ein so dichtes kompaktes Gestein, das keine Porenräume für heißes Tiefenwasser bietet“, sagt Moeck.

Grünes Tiefenwasser

Hier kommt die Nordsee ins Spiel. In 1.300 Meter Tiefe stieß die Bohrung auf eine dicke wasserhaltige Sandschicht, den ehemaligen Nordsee-Strand. Moeck erklärt: „Das Tiefenwasser, das wir gefördert haben, war avocadogrün. Die Farbe stammt von einem Tonmineral, das nur in Küstensanden abgelagert wird. Deshalb wussten wir: Das ist Strandsand.“ Er gehört zur Brüssel-Formation, einer Sandschicht, die sich von Brüssel im Westen nach Osten entlang des damaligen Nordsee bis nach Polen erstreckt. „Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wo der Sand genau vorkommt. Dann könnten alle Städte und Kommunen, die auf dem ehemaligen Küstensaum liegen, Tiefengeothermie nutzen“, sagt die Wissenschaftlerin.

Im Oktober startet dazu eine Doktorarbeit innerhalb eines Forschungsvorhabens. Es sollen alte seismische Untersuchungen genutzt werden, bei denen im Untergrund mit Schallwellen nach Erdöl und Erdgas gesucht wurde. „Wir schauen uns die Daten noch einmal an und prüfen, ob und wo wir die Strandsande identifizieren können.“ So wurde das Forschungsvorhaben der IBA Hamburg und der von ihr mitgegründeten Gesellschaft GTW Geothermie Wilhelmsburg GmbH trotzdem zum Erfolg, denn es ergab wertvolle Informationen für die Nutzung von Tiefengeothermie weit über Hamburg hinaus.

Lösung für dichte Besiedlung

Geeignet ist die Tiefengeothermie vor allem für große Städte, weil dabei große Wärmemengen anfallen. Ihnen muss eine entsprechende Anzahl von Abnehmern gegenüberstehen, also Wohnungen und/oder ein Gewerbegebiet mit hohem Bedarf. München beispielsweise nutzt Geothermie aus circa 3.000 Metern Tiefe für seine Fernwärmenetzte. Unter der Stadt befindet sich ein 150 Millionen Jahre alter Kalksteinsockel, der ebenfalls mit heißem Wasser gefüllt ist.

Geothermie lässt sich auch für Abwärme oder andere überschüssige Wärme nutzen. Sandstein in 500 oder 600 Metern Tiefe ist ein häufig anzutreffendes Porengestein, das Wärme aus dem Sommer in Form von heißem Wasser speichern und sie im Winter wieder abgeben kann. „Tiefengeothermie ist absolut anpassungsfähig“, so die Professorin. Das sei erheblich sinnvoller als mit überirdischen Speichern Flächen zu versiegeln.

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