Kultur und Bildung

Der NSU in Sachsen: Neues Dokumentationszentrum soll aufklären

Nils Michaelis17. April 2024
Blick ins künftige NSU-Dokumentationszentrum in Chemnitz: Khaldun Al Saadi aus der Projektleitung zeigt eine Hörstation.
Chemnitz soll ein neues Dokumentationszentrum bekommen zur Aufarbeitung des NSU-Terrors. Dort soll an die Mordserie des rechtsextremen Netzwerks erinnert werden. Es ist auch ein Auftrag für die Zukunft.

Der Standort für das NSU-Dokumentationszentrum wurde mit Bedacht gewählt: Ab 1998 hatten die Rechtsterrorist*innen des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) ihre Basis in Chemnitz. Dort lebten Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe unter falschem Namen und starteten ihre beispiellose Mordserie. Im Jahr 2000 zogen sie nach Zwickau. 

Wie war es möglich, dass die drei Neonazis jahrelang unerkannt blieben? Wer hat ihnen geholfen? Was lief aufseiten der Ermittlungsbehörden, aber auch in der gesamten Gesellschaft schief? Licht ins Dunkel des NSU-Komplexes in Sachsen soll das neue Dokumentationszentrum bringen. Im Mai 2025, wenn Chemnitz Kulturhauptstadt Europas ist, soll es eröffnet werden. In dieser Woche wurden das Konzept und der Standort der Öffentlichkeit vorgestellt. 

Im ehemaligen Chemnitzer Stadtwerkehaus sollen auf einer Fläche von rund 1.300 Quadratmetern neben der Ausstellung „Offener Prozess“ auch Bildungs- und Vermittlungsangebote, ein Forschungs- und Archivbereich sowie ein Versammlungsort zum Gedenken an die Opfer des NSU-Komplexes entstehen. Es handelt sich um eine Interimslösung. Träger des NSU-Dokumentationszentrums sind neben der „Initiative Offene Gesellschaft" die Vereine „ASA-FF" und „RAA Sachsen“. Bund und Land finanzieren den Aufbau und den Betrieb vorerst mit einer Summe von rund vier Millionen Euro.

Chemnitzer Oberbürgermeister Sven Schulze: Fokus auf politische und Demokratiebildung

Der Chemnitzer Oberbürgermeister Sven Schulze begrüßt das Vorhaben. Auch im Zuge des Themenschwerpunktes für die Europäische Kulturhauptstadt werde es inhaltlich eine wichtige Rolle einnehmen. Im Wissen um die Vergangenheit müsse der Schwerpunkt darauf liegen, einen Ort für politische und Demokratiebildung zu schaffen. „Darüber hinaus halte ich es für essenziell, einen Mehrorte-Ansatz zu verfolgen und auch die Perspektive der Opferangehörigen zu hören", so der Sozialdemokrat.

„Wir haben die verantwortlichen Akteure in den vergangenen Monaten bei der Standortsuche unterstützt und freuen uns, dass es nun ein Ergebnis gibt“, erklärte Schulze. „Für mich ist und bleibt wichtig, dass im künftigen Prozess die Stadt, die Stadtgesellschaft und die zivilgesellschaftlichen Akteure vor Ort noch stärker einbezogen werden. Nur so kann gewährleistet werden, dass solch ein Zentrum nicht losgelöst von den Bedürfnissen, Gegebenheiten und den vor Ort Engagierten entsteht.“

Angehörige Gamze Kubaşık: „In Chemnitz fühlten sich die NSU-Täter*innen sicher"

Die Hinterbliebenen der Opfer verbinden mit der Einrichtung besondere Erwartungen. Gamze Kubaşık, die Tochter des im Jahr 2006 ermordeten Mehmet Kubaşık, erinnerte daran, dass Chemnitz eine besondere Rolle bei der NSU-Mordserie gespielt habe. „Hier fühlten sich die Täter und die Täterin sicher und tauchten jahrelang unter“, sagte sie während der Vorstellung in einer Audio-Botschaft. „Hier planten sie auch den Mord an meinem Vater.“ 

Die sächsische Großstadt müsse sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen und diese aufarbeiten, forderte sie. Daher sei es besonders wichtig, dort an die Opfer zu erinnern und einen Raum für politische Bildung in dieser Stadt einzurichten.

Sachsens Justizministerin Katja Meier betonte die Verantwortung des Freistaates Sachsen bei der Aufarbeitung des NSU-Komplexes. „In den vergangenen drei Jahren haben wir mit dem Konsortium, den Angehörigen der Opfer und den Betroffenen intensiv daran gearbeitet, dass ein Ort entsteht, an dem Gedenken, aber auch Dokumentation und weitere Aufarbeitung stattfinden kann", so die Grünen-Politikerin. Gleichzeitig solle dort daran gearbeitet werden können, rechtsterroristische Straftaten zu verhindern.

„Eine Lektion für die Zukunft"

Das Pilotvorhaben soll voraussichtlich in das bundesweite NSU-Dokumentationszentrum integriert werden. Dessen Ausgestaltung plant das Bundesinnenministerium gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung. 

Mit dem Projekt in Chemnitz setze Sachsen ein wichtiges Zeichen zur Stärkung von Demokratie und gegen Rechtsextremismus, so Staatssekretärin Juliane Seifert. „Die Erinnerung an die rechtsterroristischen Morde des NSU dient nicht nur dem Rückblick“, betonte die SPD-Politikerin. „Sie ist auch eine Lektion für die Zukunft, neue Wachsamkeit zu entwickeln.“ 

Seit Ende Februar liege eine Machbarkeitsstudie für ein bundesweites NSU-Dokumentationszentrum vor. Dieses soll durch einen Verbund von dezentralen Erinnerungs- und Lernorten ergänzt werden. Einer davon sei das Chemnitzer Dokumentationszentrum.

Der NSU hat zwischen den Jahren 2000 und 2007 zehn Menschen umgebracht. Neun von ihnen hatten eine Zuwanderungsgeschichte. Das letzte Opfer war eine deutsche Polizistin. 2011 flog das Trio auf. Mundlos und Böhnhardt begingen Selbstmord. Zschäpe verbüßt eine lebenslange Haftstrafe. 

Dieser Artikel ist zuerst auf vorwärts.de erschienen.

 

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