70 Jahre Nordrhein-Westfalen

Stadt und Land – Hand in Hand

Bernhard Daldrup23. August 2016
Ruhrgebiet
Hochspannungsmasten im Sonnenuntergang an der Autobahn A1.
Warum das Bundesland Nordrhein-Westfalen mit gutem Grund den 70. Geburtstag feiert. Ein Blick durch das Kaleidoskop zeigt die bunte Vielfalt, die Sorgen und Nöte und den ungebrochenen Optimismus der Menschen an Rhein und Ruhr genau wie im Münster- und Sauerland.

Weder für eine der bedeutenden Städte noch für eines der traditionsreichen Landesteile wären 70 Jahre des Bestehens Grund für eine besondere Feier. Anders für das Bundesland Nordrhein-Westfalen: NRW ist eine Folge des politischen Zusammenbruchs Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Keine Liebesheirat, sondern ein Land, das durch Größe, Stärke und Vielfalt alle anderen Bundesländer überragt. Konnte es gutgehen, geschichtsträchtige Regionen wie Westfalen und Rheinland, dazu das kleine, aber selbstbewusste Lippe, zu einen neuen Bundesland zusammenzufügen? Die damals offene Frage ist nach 70 Jahren eindeutig beantwortet: Ja, es ist gut gegangen und der 70. Geburtstag deshalb durchaus ein Grund zum Feiern.

Unvergessen: Ministerpräsident Johannes Rau

Die Antworten auf das Warum sind vielfältig und allein diese Feststellung ist charakteristisch: Vielfalt. Kaum jemand konnte die Unterschiedlichkeit der drei Landesteile so schön ironisieren wie der unvergessene Ministerpräsident Johannes Rau: „Nordrhein-Westfalen braucht für seine Zukunft die Zuverlässigkeit der Rheinländer, die Leichtigkeit der Westfalen und die Großzügigkeit der Lipper.“ Tugenden, die der jeweiligen Region angeblich genau nicht zu eigen sein sollen.

Es ist eben nicht vor allem die Mundart („alles außer Hochdeutsch“), die topografische Unverwechselbarkeit (bayrischer Berge) oder die kulturelle Tradition (der Stadtstaaten), die NRW charakterisieren. Es ist eben von allem etwas: Vergangenheit und Zukunft großer Städte, Niedergang und Aufstieg industrieller Regionen, wissenschaftlicher Aufbruch und handwerkliche Tradition, topografische Vielfalt und kulturelle Lebendigkeit. Und besonders die Menschen Nordrhein-Westfalens. Erst dieser Blick durch das Kaleidoskop zeigt das bunte Spektrum des „Wir in NRW“, das seit den 80er Jahren das Image dieses sich stets wandelnden Bundeslandes auf eine Formel bringt.

Kommunalpolitik als Schule der Demokratie

Die Bildung des Landes war vor allem eine britische Entscheidung. Doch noch bevor die Bevölkerung des neuen Bundeslandes aufgefordert war, ihren ersten Landtag zu wählen, war bereits mit der Kommunalwahl am 13. Oktober 1946 ein demokratisches Fundament in Nordrhein-Westfalen gelegt. Basis dafür war eine neue Gemeindeordnung, die den Stadtdirektor als Verwaltungsfachmann und den Bürgermeister als ehrenamtlichen Repräsentanten einführte und die Kommunalpolitik als „Schule der Demokratie“ etablierte. Wie in keinem anderen Flächenland prägen heute Städte und Gemeinden mit einer starken kommunalen Demokratie das Land. „Stadt und Land – Hand in Hand“ – auch dieser Slogan kennzeichnet NRW und ist zentrale Leitlinie von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, die seit ihrem Amtsantritt für den Schulterschluss mit den Kommunen steht.

Nur 396 der fast 12.000 bundesdeutschen Kommunen liegen in NRW. Nirgendwo sonst ist die Kommunalpolitik seit der Gebietsreform von 1975 so stark konzentriert wie in NRW. Mit 29 Großstädten (über 100.00 Einwohner) und 177 Mittelstädten (20.000 bis 100.000 Einwohner) überragen die NRW-Kommunen die Zahl der Städte anderer Bundesländer um ein Mehrfaches. Vom dörflichen Dahlem in der Eifel bis zur Millionenstadt Köln reicht die Palette. Vielfalt und Unterschiedlichkeit auch hier. Natürlich sind die Lebensbedingungen in Bottrop anders als in Balve, in Detmold anders als in Dortmund, im Münster- oder Sauerland anders als an Rhein und Ruhr. Anders- ja, gegensätzlich – kaum. Noch.

Kommunale Selbstverwaltung ist gefährdet

Denn die vielbeschworene kommunale Selbstverwaltung ist gefährdet: Kassenkredite und Verschuldung in zweistelliger Milliardengröße, Investitionsschwäche und hohe Sozialausgaben gefährden den sozialen Zusammenhalt und lassen die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ins Wanken geraten.  Wenn im „reichen“ Düsseldorf die Kindergärten komplett gebührenfrei sind, im armen Kreis Unna hingegen auf hohem Level Familien belasten, weil die Mittel fehlen, ist Chancengleichheit nicht vorhanden. Nicht nur das Ruhrgebiet – zwar längst wieder auf dem Weg der Besserung, leidet seit langer Zeit an diesem Dilemma. Der Verfall der Infrastruktur, fehlende Chancengleichheit und die Gefährdung des sozialen Zusammenhalts sind die Schulden der Zukunft.

Dabei kann sich die Bilanz der rot-grünen Landesregierung zur Unterstützung der Kommunen zweifellos sehen lassen. Der vorsorgende Sozialstaat, mit dem Ministerpräsidentin Hannelore Kraft die Probleme aufgreifen und „kein Kind zurücklassen“ will, ist eine überzeugende Antwort auf die Probleme moderner Industriegesellschaften. Doch wenn die Problemlage die kommunalen und landespolitischen Handlungsmöglichkeiten übersteigt, sind weitere Konzepte, vor allem eine bessere Finanzierung der Kommunen unerlässlich.  Zwar hat sich auch die Große Koalition die Unterstützung der Kommunen zu eigen gemacht und dabei auch Erfolge erzielt, doch längst sind nicht alle Sorgen in Berlin angekommen. Neue Herausforderungen wie die Integration der Flüchtlinge bestimmen überdies die Agenda. „Stadt und Land – Hand in Hand“ ist mithin auch eine Strategie gegenüber dem Bund, die die Geschichte NRWs begleitet.

Das traditionell enge Verhältnis von Land und Kommunen in NRW spielt deshalb auch im föderalen Konzert eine wichtige Rolle. NRW – das soziale Gewissen Deutschlands – war schon ein Thema der ersten Landesregierung gegenüber der Adenauerschen Politik und ist es über Johannes Rau bis zu Hannelore Kraft auch heute geblieben. Wirtschaftliche und ökologische Verwerfungen traten verschärft immer auch in NRW auf. Sie hinterließen tiefgreifende soziale Folgen, von denen Arbeitslosigkeit und kommunale Finanzkrise nur die Oberfläche beschreiben. Und dennoch ist NRW allen Unkenrufen zum Trotz das Land mit der größten Anzahl von Dax-Unternehmen, Telekommunikation- und Wissenschaftsstandort, dessen Wirtschaftskraft – isoliert betrachtet – NRW einen europäischen Spitzenplatz beschert.

In den siebzig Jahren seines Bestehens hat NRW manche Herausforderung bewältigen müssen: Der Zustrom von Menschen – seien es Flüchtlinge oder Gastarbeiter – ist für NRW keine neue Aufgabe. Demografische Veränderungen begleiteten dieses Bundesland immer. Im Land von Kohle und Stahl ist Willy Brandts Formel vom blauen Himmel über der Ruhr (1961) längst Wirklichkeit geworden (ohne das die ökologischen Probleme gelöst wären). Auch heute ist NRW besonders den globalen Wettbewerbsbedingungen ausgesetzt, muss die komplexen Veränderungen einer digitalen Zukunft gestalten und dabei der sozialen Tradition des Landes verpflichtet bleiben.

Keine leichte Aufgabe – aber: Einfach können auch andere! Glückauf und Guet goan NRW!

 

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