Gesetzentwurf im Bundestag

Debatte um Bundesteilhabegesetz geht in entscheidende Phase

Carl-Friedrich Höck29. September 2016
Dialogveranstaltung zum Bundesteilhabegesetz
Einen Tag nach der Debatte im Plenum begrüßt Bundestagsvizepräsidentin Edelgard Bulmahn (lSPD, links im Bild) die Gäste einer Dialog-Veranstaltung aller Fraktionen zum Thema „Politik für und mit Menschen mit Behinderung”.
Der Entwurf für ein Bundesteilhabegesetz ist vom Bundestag in die Ausschüsse überwiesen worden. Andrea Nahles hat die Kabinettsvorlage vor dem Parlament gegen Kritik verteidigt. Der Bundesrat richtet sich mit mahnenden Worten an die Regierung.

Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD) hat in der vergangenen Woche im Bundestag für das geplante Bundesteilhabgesetz geworben. „Wir wollen nicht mehr und nicht weniger als einen Quantensprung schaffen“, sagte sie während der Ersten Lesung. Kritik an der Regierungsvorlage trat sie entgegen. Niemandem solle es mit dem neuen Gesetz schlechter gehen als bisher. „Im Gegenteil: Den meisten wird es – dessen bin ich mir sicher – besser gehen“, versprach die Ministerin.

Behindertenverbände fordern Nachbesserungen

Behindertenverbände dagegen weisen darauf hin, dass die Reform die bisher gewährten Leistungen für einen Teil der Behinderten einschränken könnte. Zudem geht ihnen der Gesetzentwurf nicht weit genug. So fordern sie, Einkommen und Vermögen der Menschen mit Behinderung überhaupt nicht mehr heranzuziehen. Der bisherige Gesetzentwurf sieht lediglich vor, dass Menschen, die Leistungen aus der Eingliederungshilfe beziehen, mehr Geld ansparen und einen größeren Teil ihres Einkommens behalten dürfen als bisher. (Eine Liste mit sechs Kernforderungen des Behindertenrates und anderer Verbände finden Sie hier.)

Befürchtet wird auch, dass das Gesetz in der Praxis – anders als von der Regierung angekündigt – dazu führen wird, dass beeinträchtigte Menschen ihre Wohnung nicht frei wählen können. Die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung Verena Bentele etwa betonte gegenüber der DEMO: „Auch in Zukunft muss es möglich sein, dass Menschen mit Behinderungen selbstständig leben und nicht mit anderen gemeinschaftlich ihre Assistenz in Anspruch nehmen müssen.“

Bundesteilhabegesetz soll stufenweise eingeführt werden

Solche ungewollten Nebeneffekte halten die Regierungsfraktionen für unwahrscheinlich. Die SPD-Abgeordnete Carola Reimann verwies im Bundestag darauf, dass die Regierung bereits drei Millionen Euro eingeplant habe, um die Auswirkungen des Gesetzes untersuchen und die praktische Umsetzung begleiten zu können. Zudem werde das Gesetz stufenweise eingeführt und erst ab 2020 vollständig wirken.

Andrea Nahles stellt Bundesteilhabegesetz vor
Andrea Nahles wirbt für das Bundesteilhabegesetz.

Der Bund wird für das Bundesteilhabegesetz 700 Millionen Euro an zusätzlichen Haushaltsmitteln zur Verfügung stellen, wie Andrea Nahles im Bundestag noch einmal betonte. „Dafür mussten wir intensiv kämpfen, und wir mussten gleichzeitig die Entlastung der Kommunen um fünf Milliarden Euro unangetastet lassen.“

Kommunen fordern: Bund muss alle Mehrkosten übernehmen

Viele Kommunen vermuten allerdings, dass das Bundesteilhabegesetz die kommunalen Haushalte dennoch zusätzlich belasten könnte. Der Bundesrat hat am 23. September dazu Stellung genommen  und die Bundesregierung aufgefordert sicherzustellen, „dass durch das Bundesteilhabegesetz für Länder und Kommunen entstehende Mehrkosten vollständig und dauerhaft durch den Bund übernommen beziehungsweise ausgeglichen werden.“ Die tatsächlichen finanziellen Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes müssten zeitnah evaluiert werden.

Vom Bundestag wurde der Gesetzentwurf in zehn Ausschüsse überwiesen, federführend ist der Ausschuss für Arbeit und Soziales. Damit geht die Debatte um das Gesetz in die entscheidende Phase. In zwei Monaten soll das Gesetz vom Bundestag verabschiedet werden, bis Mitte Dezember soll es auch den Bundesrat passiert haben.

Das geplante Bundesteilhabegesetz

Fast 400 Seiten umfasst der Entwurf für ein Bundesteilhabegesetz, auf den sich das Bundeskabinett am 28. Juni 2016 nach langen Vorberatungen verständigt hat. Mit den Reformen will die Bundesregierung die Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention erfüllen. Einige zentrale Änderungen sind:

Die Eingliederungshilfe wird aus dem Fürsorgesystem der Sozialhilfe herausgeführt. Das bedeutet: Sogenannte Fachleistungen – etwa die Kosten für einen persönlichen Assistenten – werden künftig von den Leistungen zum Lebensunterhalt (Wohnung und Essen) getrennt. Und sie werden unabhängig davon finanziert, ob jemand in einer Einrichtung für Behinderte, in einer Wohngemeinschaft oder in einer eigenen Wohnung lebt – das bedeutet mehr Autonomie für die Betroffenen.

Außerdem sollen Menschen mit Behinderung, die auf Eingliederungshilfe angewiesen sind, in Zukunft mehr Geld ansparen können: Der Freibetrag erhöht sich schrittweise von derzeit 2600 Euro auf rund 50.000 Euro im Jahr 2020. Die Einkommen von Lebenspartnern werden ab 2020 nicht mehr angerechnet. Die Freibeträge für Erwerbseinkommen steigen um bis zu 260 Euro monatlich.

Um mehr Menschen mit Behinderung eine Arbeitsstelle zu ermöglichen, soll es Lohnkosten-Zuschüsse von bis zu 75 Prozent geben. Dafür wird ein Budget in Höhe von 100 Millionen Euro bereitgestellt.

Damit die Kosten nicht zu stark ansteigen, sollen Träger der Eingliederungshilfe – also Kommunen und Bundesländer – bestimmte Leistungen bündeln („poolen“) können. Das bedeutet, dass sich mehrere Betroffene einen Assistenten oder einen Fahrdienst teilen können.

Es soll einfacher werden, Reha-Leistungen in Anspruch zu nehmen. Sozialamt, Rentenversicherung, Bundesagentur für Arbeit, Unfall-, Kranken- und Pflegekasse sollen Leistungen wie aus einer Hand anbieten: Ein einziger Antrag soll in Zukunft ausreichen, um ein umfassendes Prüf- und Entscheidungsverfahren in Gang zu setzen.

Für Menschen mit Behinderung und ihre Angehörige sollen es mehr unabhängige Beratungsmöglichkeiten geben. Hierfür nimmt der Bund 60 Millionen Euro pro Jahr in die Hand. Um Betrug und Missbrauch zu verhindern, sollen Pflegedienste besser kontrolliert werden können, etwa durch eine unangemeldete Einsichtnahme in die Bücher.

Gegenwärtig beziehen etwa 900.000 Menschen Leistungen aus der Eingliederungshilfe. Für Länder und Kommunen bedeutet das Ausgaben von mehr als 14 Milliarden Euro jährlich. Laut Bundessozialministerin Andrea Nahles führt das Bundesteilhabegesetz für den Bund zu Mehrkosten von 700 Millionen Euro pro Jahr.

Die Kommunen sollen nicht zusätzlich belastet werden, sagt Nahles. Dennoch fürchten Kommunalverbände steigende Ausgaben. Zum einen, weil die Kosten für die Eingliederungshilfe auch ohne gesetzliche Änderungen steigen würden – diese Entwicklung wird nun lediglich abgebremst. Und zum anderen, weil die Kommunen mehr Personal benötigen, um zusätzliche Verwaltungs- oder Kontrollaufgaben erfüllen zu können.

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