Bildung von Kindern mit Migrationshintergrund

Wie Kinder besser lernen durch Selbstbestätigung

Karin Billanitsch11. Juli 2017
Für die Förderung von Kindern und Jugendlichen in der Schule ist auch die einzelne Lehrkraft entscheidend.
Eine aktuelle Studie von Bildungsforschern zeigt: Selbstbestätigende Interventionen im Schulalltag können Schülern mit türkischem oder arabischen Migrationshintergrund helfen, ihre Leistungen zu verbessern.

Diese Situation kennen viele Menschen aus ihrer eigenen Schulzeit: die Prüfungsangst. Es ist die Angst davor, bewertet zu werden. Das führt dazu, dass Prüflinge derart in Stress geraten, dass sie ihr Leistungspotenzial nicht anwenden können, also schlechtere Leistungen erzielen, als sie von ihren Fähigkeiten her eigentlich erreichen könnten. Diesen Stress erleben häufig auch Menschen, die wissen, dass sie zu einer sozialen Gruppe gehören, von der man stereotyp geringere Leistungen erwartet. Solche Forschungen gibt es etwa mit Blick auf Männer und Frauen in technischen und mathematischen Bereichen. Eine neue Studie nimmt Kinder und Jugendliche mit arabischem und türkischem Migrationshintergrund auf deutschen Schulen in den Fokus.  

Dem Stereotyp entgegensteuern

Die aktuelle Studie „Vielfalt im Klassenzimmer – Wie Lehrkräfte gute Leistung fördern können“ vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung  an der Humboldt-Universität zu Berlin (BIM) und dem Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) hat – in drei Teilen – die Bedeutung von Einstellungen und Erwartungen von Lehrkräften gegenüber Kindern mit türkisch oder arabischstämmigem Hintergrund untersucht, insbesondere inwiefern der Bildungserfolg beeinträchtigt wird und wie entgegengesteuert werden kann.

Die Autoren stellten fest, dass „Lehrererwartungen das Lernen der Kinder signifikant beeinflussen“ können. Professorin Petra Stant, Leiterin dieses Studienteils, erklärte dazu: „Aus der sozialpsychologischen Forschung wissen wir, dass Stereotype unser Denken und Handeln beeinflussen können, selbst wenn wir diese Vorannahmen nicht glauben. Unsere Studie zeigt, dass dies auch in der Schule vorkommen kann. Die Effekte seien klein, räumt sie ein. „Aber es ist wichtig, sich das bewusst zum machen, dann kann man sie vermeiden.“ Für dieses Studienmodul wurden 1065 Kinder und ihre Lehrkräfte über das gesamte erste Schuljahr begleitet, wie Stant erläutert. Die Schulen verteilen sich auf verschiedene Städte im Ruhrgebiet.

Lehrer erwarten weniger von muslimischen Kindern

Unmittelbar nach Schuljahresbeginn wurden die Lehrer befragt, wie sie den Leistungsstand ihrer Schülerinnen einschätzen und welche Entwicklungen sie erwarten. Es ging um zwei lesebezogene und zwei mathematische Fragen. Diese Aufgaben mussten die Kinder dann auch tatsächlich bearbeiten, so dass es möglich wurde, die Leistungen mit den Erwartungen zu vergleichen. Am Ende des Schuljahres untersuchten die Bildungsforscher, wie sich die Kompetenzen des Kindes entwickelt hatten und ob sich die Einschätzungen der Lehrer verändert hatten. Während des Jahres wurden Unterrichtsvideos gedreht und ausgewertet. Es ging nur um Kinder der zweiten Zuwanderergeneration. Ein Ergebnis: „Lehrkräfte halten es bei türkeistämmigen Kindern im Durchschnitt für weniger wahrscheinlich, dass sie die Aufgaben korrekt lösen können als bei Kindern ohne Migrationshintergrund. Bei Schülern mit osteuropäischem Hintergrund, was auch ausgewertet wurde, gab es diese Unterschiede nicht.“ Bei Auswertung des Videos ergab sich darüber hinaus: Kinder, von denen die Lehrkraft einen Gymnasialbesuch erwartet, werden umso häufiger im Unterricht aufgerufen. Sie beschäftigt sich auch länger mit Ihnen. Laut der Studie ist das unabhängig von den tatsächlichen Leistungen, dem sozioökonomischen Hintergrund und dem Geschlecht der Kinder.

„Die Leistungen am Ende der Grundschulzeit sind sehr unterschiedlich“ sagt Wissenschaftlerin Petra Stant,  räumt aber ein: „Man kann nicht alle Unterschiede erklären.“ Der sozioökonomische Hintergrund und das Vorwissen der Kinder spielen auch eine große Rolle, die verzerrten Lehrererwartungen dürften eine eher untergeordnete Rolle spielen. Ein weiterer Grund für Leistungsunterschiede ist laut der Studie auch, dass Kinder die negativen Stereotype, denen sie ausgesetzt sind, verinnerlichen, und deswegen schlechtere Leistungen erbringen. Selbsterfüllende Prophezeiung heißt das im Alltag.

Motivation durch Selbstbestätigung

Aber es ist möglich, hier entgegenzusteuern – mit relativ wenig Aufwand für die Lehrkräfte. Das ist das Fazit des dritten Teil des Forschungsprojektes. Dafür hat für der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) ein groß angelegtes Schulexperiment durchgeführt. In elf Berliner Integrierten Sekundarschulen mit insgesamt 820 Schülern und Schülerinnen wurde untersucht, wie Schulleistungen sich verbessern durch Selbstbestätigung. Mindestens 30 Prozent der Schülerschaft spricht zu Hause nicht Deutsch.  

Die Klassen haben dabei an einer sogenannten „Selbstbestätigungsintervention“ teilgenommen. Konkret haben die Forscher ihnen eine kreative Aufgabe gestellt. Die Kinder sollten über Themen, die Ihnen wichtig sind, einen Aufsatz schreiben. Sport machen, malen, basteln, handwerken, sich neue Dinge ausdenken, Musik hören, anderen Leuten helfen: das stand zum Beispiel auf der Liste, die den jungen Menschen gegeben wurde. Sie konnten sich heraussuchen, was ihnen am meisten bedeutet. Auch eine Kontrollgruppe gab es, die über etwas schreiben sollte, was für sie unwichtig ist. Unmittelbar danach fand ein Mathetest statt. Das Experiment zeigte direkt danach, aber auch noch zwei Monate später, signifikant bessere Leistungen im Mathematik. Die Erklärung: Wer sich mit Dingen auseinandersetzt, die ihm wichtig sind und positiv besetzt sind, der bringt auch auf anderen Gebieten bessere Leistungen. Cornelia Schu, Direktorin des SVR-Forschungsbereichs, zog daraus den Schluss: „Lehrkräfte können einer Benachteiligung einzelner Kinder durch ungewollte Stereotype und verzerrte Erwartungen gezielt und vergleichsweise einfach entgegen wirken.“

Geringer Aufwand für Lehrkräfte

Ein großer Vorteil dabei ist „der geringe zeitliche und finanzielle Aufwand“, lautet ein Fazit. Aber die Lehrkräfte müssen entsprechend geschult werden, so der Appell, etwa im Rahmen von Fortbildungen. Deshalb sei es wichtig, dass die Schulleitung gemeinsam mit dem Kollegium plant und sicherstellt, dass die Interventionen angemessen umgesetzt würden. Winfried Kneip, Geschäftsführer der Stiftung Mercator, die das Projekt gefördert hat, betont: „Bildung ist nach wie vor ein wichtiger Schlüssel zu Chancengerechtigkeit. Schulen brauchen ganzheitliche Konzepte, die auf den guten Umgang mit Vielfalt zugeschnitten sind. Die aktuelle Studie zeigt, mit welch einfachen Mitteln dies oft schon möglich ist.“