100 Jahre Rotes Wien

Wiens Bürgermeister Ludwig erklärt Wohnungspolitik

Carl-Friedrich Höck21. November 2019
Michael Ludwig
Vor 100 Jahren starteten die Sozialdemokraten in Wien eine soziale Wohnungspolitik. Die Österreicher trotzten auch den Privatisierungstrends der 1980er und 90er. „Wir wissen heute, dass das richtig war“, sagt Bürgermeister Michael Ludwig auf dem DEMO-Kommunalkongress.

Viele deutsche Kommunalpolitiker schauen sehnsüchtig nach Wien. Während hierzulande die Mieten in den Metropolen steigen und die Politik Mühe hat gegenzusteuern, sitzen die Wiener Genossen auf einem gewaltigen Schatz: Fast zwei Drittel der Wiener leben in Wohnungen, die der Stadt gehören.

Erfolgsgeschichte begann vor 100 Jahren

Der Bürgermeister und Landeshauptmann von Wien Michael Ludwig schildert am Donnerstag auf dem DEMO-Kommunalkongress, wie es dazu gekommen ist. Denn als die Sozialdemokraten im Jahr 1919 die politische Mehrheit in Wien übernommen haben, sah es noch ganz anders aus. Die meisten Wiener lebten eben nicht in den monarchistischen Prachtbauten, die das Bild von Wien prägen, sondern hausten unter elenden Verhältnissen. „Es hat kein Mietrecht gegeben, keine Beschränkung der Spekulation. Die Menschen sind tatsächlich ausgebeutet worden“, sagt Ludwig. Tuberkulose galt als „Wiener Krankheit“, weil sie sich aufgrund der schlechten Wohnverhältnisse leicht ausbreiten konnte.

Innerhalb weniger Jahre krempelten die Sozialdemokraten die Stadt um: Bis 1933 errrichteten sie 65.000 Gemeindewohnungen „mit Licht, Luft und Sonne“, wie Ludwig erklärt. Nach zwei faschistischen Regimen übernahm die SPÖ 1945 erneut das Ruder und führte die Politik fort. 

Selbst in den 1980er und 90er Jahren, als viele Kommunen ihr Tafelsilber verkauften und privatisierten, hielt Wien an den gemeindeeigenen Wohnungen fest. „Wir haben damals heftige Diskussionen gehabt“, erinnert sich Ludwig. „Heute wissen wir, dass es richtig war.“

Wohnungen für breite Schichten der Bevölkerung

Um das Angebot an bezahlbarem Wohnraum zu pflegen und zu erweitern nimmt die Stadt weiterhin Geld in die Hand: Aus einem Topf für Wohnbauförderung erhalte Wien jährlich 450 Millionen Euro und lege selbst noch 150 Millionen drauf, so Ludwig.

Das Ziel ist es, bezahlbaren und gemeindeeigenen Wohnraum für breite Bevölkerungsschichten zur Verfügung zu stellen. Und nicht nur für die finanzschwachen, was Ludwig so begründet: Würde man allen anderen verwehren, in städtischen Wohnungen zu leben, müssten sie auf private Wohnungen ausweichen – und würden dort die Preise hochtreiben. Auch werde so eine soziale Durchmischung gewährleistet. „Man sollte an der Visitenkarte eines Menschen nicht seinen sozialen Status erkennen“, betont Ludwig.

Seit vier Jahrzehnten läuft das Projekt der „Sozialen Stadterneuerung“. Die Idee: Wenn private Eigentümer beispielsweise ein altes Gründerzeithaus sanieren will, erhält er Zuschüsse von der Stadt. Im Gegenzug darf er 15 Jahre lang die Miete nicht erhöhen. Auch so verhindere man Gentrifizierung, sagt Michael Ludwig. „Wir wollen ja nicht eine Auseinanderteilung der Städte.“

Strenge Auflagen für Bauherren

Ludwig stellt die privaten Investoren als Partner dar, denen allerdings einiges abverlangt werde. „Wir haben bis heute eine strenge Infrastrukturkommission“, sagt er: Ab einer bestimmten Anzahl von Wohnungen müssten Kindergärten, Schulen, Seniorenheime und vieles andere mehr vom Bauträger mitgeliefert werden.

Umstritten ist eine Auflage, die vor Kurzem für große Wohnungsbauprojekte neu eingeführt wurde: Sie verpflichtet private Bauträger, dass zwei Drittel der neu gebauten Wohnungen geförderter Wohnraum sein müssen, also preisgebunden. 

Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften werden mit steuerlichen Vorteilen bedacht. „Ich war immer ein Verfechter der Gemeinnützigkeit“, sagt Ludwig. Schließlich verbleibe das Geld so im System. Das heißt: Überschüsse werden wieder in die Wohnungen investiert.

Werden städtische Grundstücke vergeben, kommt ein komplexes Vergabeverfahren zur Anwendung: Die Stadt bewertet die Wirtschaftlichkeit des geplanten Bauprojektes, die Ökologie, die soziale Nachhaltigkeit und die Architekturqualität. Auch das ist ein Instrument, die Entwicklung der Stadt zu beeinflussen.

Wien ist nicht Berlin

Lässt sich das Wiener Modell auf Deutschland übertragen? Zumindest nicht 1:1, wenn man dem Debattenverlauf auf dem DEMO-Kommunalkongress folgt. Ingeborg Esser vom Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen verweist darauf, dass der Staat für den sozialen Wohnungsbau zu wenig Geld in die Hand nehme. 14 Milliarden Euro müssten pro Jahr aufgewendet werden, um den Bedarf zu decken. Der Bund gebe aber nur eine Milliarde – selbst wenn die Länder eine weitere drauflegten, sei das bei weitem nicht genug.

Kai Warnecke, Präsident des Eigentümerverbandes Haus & Grund, hält mehr Mietwohnungen gar nicht zwingend für erstrebenswert. 80 Prozent der Deutschen wollten lieber in den eigenen vier Wänden leben. Das zu ermöglichen müsse Ziel der Politik sein. 

Der kommunalpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Bernhard Daldrup dagegen bedauert, dass in Berlin und anderen Städten viele Wohnungen privatisiert worden sind. Das sei in den 1990er Jahren Mainstream gewesen, selbst SPD und Grüne hätten mitgemacht. „Das war ein Fehler“, räumt Daldrup ein. Das Wiener Modell sieht er nicht nur unkritisch. Für viele junge Leute sei es schwierig, in das System hereinzukommen. Denn diejenigen, die bereits in den städtischen Wohnungen lebten, zögen ja dort nicht aus.

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe – ihr Berliner Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg / Prenzlauer Berg Ost ist besonders von Gentrifizierung betroffen – verweist auf die deutschen Modelle gegen Wohnungsnot und Spekulation: Die Mietpreisbremse in Berlin etwa. Von Wiener Verhältnissen sei Berlin aber weit entfernt. Die kooperative Baulandentwicklung in Berlin fordert Investoren nur 30 Prozent geförderte Wohnungen ab (statt zwei Drittel wie in Wien). Und in der deutschen Hauptstadt seien nur gut zwölf Prozent der Wohnungen in kommunaler Hand.

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