Studie

Die Demokratie ist auf eine vitale Zivilkultur vor Ort angewiesen

Sven Tetzlaff18. Oktober 2023
Sven Tetzlaff, Körber-Stiftung
Immer weniger Deutsche haben Vertrauen in ihre Demokratie. Wie dem entgegen gewirkt werden kann entscheidet sich auch auf kommunaler Ebene. Eine Schlüsselbedeutung hat dabei die Zivilkultur vor Ort. Ein Gastbeitrag von Sven Tetzlaff, Körber-Stiftung.

Die Kommunen sind diejenigen politischen Einheiten, die am nahesten an den Bürgerinnen und Bürgern agieren und ihre Lebenssituation direkt betreffen. Die Kommunen spielen daher auch eine zentrale Rolle, wenn es um das Vertrauen der Menschen in das Funktionieren der Demokratie geht. Dieses Funktionieren erschöpft sich jedoch nicht im Vollzug kommunalen Verwaltungshandelns: Die Demokratie ist ganz wesentlich auch auf eine Zivilkultur der Bürgerschaft angewiesen, die auf Kooperation, Beteiligung und auf der Aushandlung unterschiedlicher Interessen beruht, so der Philosoph und frühere Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin.

Die Zivilkultur umfasst die Werte, Normen und Praktiken, die den Umgang der Bürger miteinander prägen und eine Grundlage für gegenseitigen Respekt und soziale Verantwortung schaffen. Eine Aushöhlung der Zivilkultur wird zu einer Krise der Demokratie führen – so die Analyse von Nida-Rümelin, die er in einer aktuellen Studie für die Körber-Stiftung durchgeführt hat. In einem eigenen Kapitel widmet er sich dabei der Frage nach den Bedingungen für eine vitale Zivilkultur in der kommunalpolitischen Praxis. Zentrale Überlegen werden hier vorgestellt, ergänzt um die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage, die die Körber-Stiftung zum Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Demokratie von dem Institut Policy Matters hat durchführen lassen.

Kommunen brauchen eine aktive Bürgerschaft

„Die Zivilkultur einer Demokratie verlangt mehr als lediglich die Bereitschaft, sich an die Normen der Verfassung und des Rechts zu halten“, so Nida-Rümelin. Es liegt auch an den Bürgerinnen und Bürgern selbst, ob sie durch aktive Beiträge die Demokratie stärken, oder durch Passivität gefährden. Eine Kommune braucht eine aktive Bürgerschaft in mehrerlei Hinsicht. Etwa die Bereitschaft, ehrenamtlich für den Rat zu kandidieren, denn dieses Amt ist nicht vergütet und bietet in der Regel keine Karriereoptionen. Die meist regional verwurzelten Mitglieder der Räte sind zentrale Mittler zwischen Staat und Bevölkerung. Sie nehmen Anregungen der Bürgerschaft auf und vermitteln sie an die Verwaltung oder stellen umgekehrt Verwaltungsplanungen der Einwohnerschaft vor.

Vor diesem Hintergrund ist die geringe Bereitschaft von Bürgerinnen und Bürgern zu Engagement in der Kommunalpolitik mit Sorge zu sehen. In der repräsentativen Umfrage vom August 2023 geben nur acht Prozent der Befragten an, dass sie sich in der Kommunalpolitik engagieren, 92 Prozent tun dieses nicht. Als wichtigster Gründe dafür, sich nicht zu engagieren, wird ein zu großer Zeitaufwand genannt. Aber auch ein negatives Politikimage hält Menschen von einem Engagement in der Kommunalpolitik ab: In den Gremien dort werden Menschen vermutet, die nicht zu einem passen, ein rauer Ton wird befürchtet bis hin zu Angst vor Hass und Hetze.

Vorschläge für mehr Engagement

Die kommunalpolitische Engagementbereitschaft zu stärken sehen die Befragten in erster Linie als Aufgabe der Politik. Zustimmung finden Vorschläge, dass Schüler mindestens einmal an Gemeinderatssitzungen teilnehmen sollten (70 Prozent), dass mehr über die politische Arbeit in der Kommune informiert und dafür geworben werden sollte (68 Prozent) oder dass Frauen in der Betreuung von Kindern und Pflegebedürftigen mehr Entlastung bekommen, um sich politisch engagieren zu können (55 Prozent). Und 40 Prozent sagen, sie würden sich politisch engagieren, wenn sie von ihrer Kommune eingeladen werden würden.

Neben dem kommunalpolitischen Engagement sieht der Wissenschaftler Nida-Rümelin für die Zivilkultur vor Ort auch das ehrenamtliche Engagement in Vereinen, Gemeinden, lokalen Initiativen oder Nachbarschaften als zentral. Neuere Studien etwa der Deutschen Stiftung für Ehrenamt und Engagement belegen, dass bei Engagierten ein höheres System- und Demokratievertrauen ausgeprägt ist als bei Nichtengagierten. Laut der Umfrage für die Körber-Stiftung messen die Deutschen nichtstaatlichen Institutionen eine große Bedeutung zu, etwa sozialen Organisationen, deren Rolle 70 Prozent als wichtig ansehen, aber auch Sport- und Gesangsvereinen oder Umweltverbänden mit jeweils über 50 Prozent. Aktuelle Studien zum Ehrenamt etwa von Ziviz im Stifterverband zeigen jedoch, dass es für Organisationen selbst zunehmend schwieriger wird, Ehrenamtliche zu gewinnen.

Öffentliche Räume und öffentlicher Diskurs sind essenziell

Das politische Selbstverständnis der Kommunen – so Nida-Rümelin – darf sich in demokratischer Hinsicht nicht darauf beschränken, Bedarfe einzelner Gruppen der Einwohnerschaft zu decken, „dann verfehlt sie ihren Integrationsauftrag“. Die Bürgerschaft besteht aus mehr als der Summe ihrer jeweiligen Teilgesellschaften. Der Austausch zwischen diesen Teilen sollte auch von den Kommunen gezielt gestärkt werden, um eine gemeinsame Verständigung über die Interessen und eine demokratische Willensbildung zu ermöglichen. „Die kulturelle Praxis in den Kommunen sollte Demokratie als Interaktion und Kooperation verstehen und insofern einen Paradigmenwechsel weg von der Befriedigung vermuteter Bedürfnisse von Einzelnen oder Gruppen im jeweiligen Stadtviertel, und hin zur Schaffung von Orten der Begegnung und des Austausches realisieren.“

Der Studienautor mahnt Handlungsbedarf an: „Die Kulturpraxis einer Kommune hat deswegen Orte der Begegnung von Menschen unterschiedlicher Partialkulturen zu erschaffen, die die notwendige kulturelle Transzendenz in der Demokratie fördern.“ Dafür brauche es öffentliche Räume, die der Allgemeinheit ohne Kosten, Erlaubnis oder Konsumzwang zugänglich sein sollten.

Orte der Begegnung und öffentliche Räume sind – gerade in Zeiten sozialer Medien mit ihren jeweiligen Eigenlogiken und kommunikativen Grenzen – unabdingbar, um Öffentlichkeit herzustellen. Denn, so Nida-Rümelin: „Nur wenn die Bürgerschaft das politische Geschehen – beurteilend und intervenierend – begleitet, ist eine Demokratie vital.“ Zu einer der wesentlichen Voraussetzung für den offenen Diskurs zählt eine uneingeschränkte Meinungsfreiheit, die jedoch – so die Ergebnisse der Umfrage für die Körber-Stiftung – immer weniger Menschen in Deutschland als gegeben sehen: 77 Prozent stimmen der Aussage voll oder weitgehend zu, dass man seine Meinung nicht frei äußern kann und 72 Prozent der Befragten meinen, dass man in Gesprächen und Diskussionen sehr aufpassen müsse, was man sagt. Das sind wenig geeignete Voraussetzungen, um bei unterschiedlichen Haltungen und Überzeugungen miteinander ins Gespräch zu kommen.

Beteiligungsdemokratie muss breit angelegt sein

In Bezug auf die Kommunen belegt die Umfrage auch ein deutlich gewachsenes Bedürfnis der Menschen in politische Entscheidungen beratend einbezogen zu werden. Während das vor zwei Jahren noch von 71 Prozent der Befragten gefordert wurde, sind es aktuell 86 Prozent. Generell sollten Gemeinden und Kommunen frühzeitig und aktiv die Bürgerinnen und Bürger konsultieren, dafür spricht sich auch Nida-Rümelin aus.

„Transparenz und Partizipation können nicht lediglich dadurch gesichert werden, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt die kommunalen Planungen zur Stadtentwicklung der Öffentlichkeit vorgestellt werden, möglicherweise zu einem Zeitpunkt, zu dem fundamentale Änderungen gar nicht mehr möglich sind oder nur zu gigantischen Kosten realisiert werden könnten, wie es bei Stuttgart 21 der Fall war. Vielmehr gilt es, die Planungen in Gestalt unterschiedlicher Szenarien einer zukünftigen Stadt-, Stadtviertel- oder Dorf-Entwicklung zu präsentieren, sodass sich die Bürgerschaft ein Bild unterschiedlich denkbarer baulicher Strukturen ihrer kommunalen Lebensform machen kann.“ Mehr Beteiligung ist aber auch mit einem Risiko für die Demokratie verbunden. Zu vermeiden gilt es, eine Beteiligten-Politik zu verfolgen, die partielle Gruppen adressiert. „Der gegenwärtige Trend, individuelle Verantwortung an informelle Gruppen und Gemeinschaften zu delegieren, kann zu einem Verlust demokratischer Kontrolle und politischer Gleichbehandlung führen.“

Wie eine multikulturelle, demokratische Gesellschaft funktioniert

Für die Zivilkultur in demokratischen Gesellschaften ist unabdingbar, dass sich kulturell-weltanschauliche, religiöse, regionale, sprachliche, ethnische oder soziale Gruppen nicht gegeneinander abschotten, so Nida-Rümelin. Es braucht eine respektvolle, wechselseitige Anerkennung und ein Grundverständnis, dass Konflikte nicht im Modus der Gewalt, sondern zivil, als Bürgerinnen und Bürger ausgetragen werden.

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Ergebnis der Umfrage zur Akzeptanz einer politischen Mitwirkung von Geflüchteten. Danach sind die Befragten geteilter Meinung zu der Aussage, Geflüchtete sollten sich in der Gemeinde politisch einbringen dürfen mit einer hauchdünnen befürwortenden Mehrheit von 41 Prozent gegenüber den Ablehnenden mit 39 Prozent.

Eine klare Absage erteilt Nida-Rümelin einem naiven Multikulturalismus: „Die Zivilkultur als eine Form des Zusammenlebens der Freien und Gleichen ist zudem mit tradierten Vorstellungen der Über- und Unterordnung, der Ordnung der Geschlechter, der Kasten, der Ethnien nicht vereinbar. Mit anderen Worten: Die Demokratie ist nicht mit beliebigen kulturellen Prägungen kompatibel. Die naive Vorstellung, dass Menschen, denen die humanistische Zivilkultur der modernen Demokratie fremd ist, allein durch Ortswechsel ein entsprechendes Ethos entwickeln, ist abwegig.“ Sein Resümee: „Ohne ein geteiltes humanistisches Ethos, das die zivilkulturelle Praxis trägt, kann es keine vitale Demokratie geben.“

Die Studie als PDF: koerber-stiftung.de

Sven Tetzlaff ist bei der Körber-Stiftung Bereichsleiter Demokratie, Engagement, Zusammenhalt.