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80 Jahre Kriegsende: Lücken im historischen Wissen werden größer

Am 8. Mai jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa und des Nationalsozialismus zum 80sten Mal. Laut einer neuen Studie werden die Wissenlücken über diese Zeit immer größer. Städte spielen als lokale Erinnerungsorte eine wichtige Rolle bei der Gedenkkultur.

von Karin Billanitsch · 5. Mai 2025
Mahnmal zum Holocaust in Hannover

Holocaust-Mahnmal in Hannover im Zentrum der Stadt. Es erinnert an die mehr als 6.800 hannoveraner Juden, die Opfer des Nationalsozialismus wurden.

Wenn in diesen Tagen Besucher*innen das zentrale Denkmal zur Erinnerung an den Holocaust in Hannover betrachten oder in Köln das EL-DE-Haus besuchen, wo sich ehemals die Kölner Gestapo-Zentrale befand, dann werden sie das vielleicht mit Blick auf das besondere Datum 8. Mai mit geschärfter Aufmerksamkeit tun. Dann jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa und des Nationalsozialismus zum 80sten mal.

Die Erinnerungen an den Weltkrieg und die Verbrechen der nationalsozialistischen Herrschaft und deren Opfer ist besonders bedeutsam in einer Zeit, in der rechtsextremes Gedankengut eine konkrete Gefahr für unsere Demokratie und Gesellschaft darstellt. Erst am vergangenen Freitag hat das Bundesamt für Verfassungsschutz die AfD als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft. 

MEMO-Studie: Wissen über NS-Verbrechen nimmt ab 

In diesem Kontext sind die Ergebnisse einer neuen Studie der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft (EVZ) zur Erinnerungskultur in Deutschland bedenklich: „Wie wir in vorherigen MEMO-Studien und anderen Umfragen wieder und wieder feststellen, tun sich immer offensichtlichere Lücken im historischen Wissen der Deutschen auf“, sagte Professor Jonas Rees vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld.

Wissenslücken zeigten sich zu Projekten der Aufarbeitung allgemein und auch mit Blick auf verschiedene Gruppen von Opfern. Ein großer Anteil der Befragten (85 Prozent) kannte laut der EVZ-Studie kein Projekt, das sich der Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus widmet. Mehr als die Hälfte der Befragten konnte bei vielen historischen Wissensfragen – wie etwa nach den Opferzahlen – gar nicht erst antworten oder hat direkt „weiß nicht“ angegeben. 

Immer mehr Menschen fordern „Schlusstrich“

Als besorgniserregend sehen die Autor*innen der Studie auch an, dass – zum ersten Mal seit Beginn der Studienreihe vor sieben Jahren – mehr Befragte die Forderung nach einem „Schlusstrich“ befürworteten (38,1 Prozent) als ablehnten (37,2 Prozent). „Antisemitische, rechtspopulistische und geschichtsrevisionistische Haltungen haben im Vergleich zu früheren Befragungen merklich zugenommen und sind nun endgültig in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Wir sehen sie in allen Bevölkerungsschichten und gesellschaftlichen Gruppen“, erläutert Professor Rees. 

„Auch beim Wissen um die eigene Familiengeschichte, der des Arbeitgebers oder des eigenen Wohnorts zeigten sich Diskrepanzen“, verdeutlichte Veronika Hager, wissenschaftliche Referentin in der EVZ. Die vollständigen Ergebnisse der „Gedenkanstoß-Memo-Studie“ sind im Internet veröffentlicht.

Studie sieht Potenzial für Engagement 

Aber gleichzeitig stimmten fast 43 Prozent der Befragten eher stark oder stark zu, die Erinnerung an die Verbrechen des Sozialsozialismus lebendig zu halten. Daraus folgert Hager von der EVZ: Über Familie, Unternehmen und Wohnort könnten konkrete, lebensnahe Bezüge zu Geschichte hergestellt werden, um „Leerstellen des Erinnerns“ zu füllen. 

Ein wichtiges Ergebnis der Studie ist, dass die Forscher*innen ungenutztes Potenzial für mehr Engagement für eine lebendige Erinnerungsarbeit sehen: Mehr als ein Drittel der Befragten seien zwar interessiert daran, etwas zu tun, aber nur 7,9 Prozent engagieren sich konkret. Darunter seien viele jüngere Menschen und Studierende. Darin sieht die Stiftung EVZ eine Chance: „Wir wollen besser verstehen, wie die Interessierten, aber bisher Un-Engagierten motiviert werden können, aktiv zu werden“, sagte Andrea Despot, Vorstandsvorsitzende der Stiftung EVZ. Denn aktiver Einsatz für Erinnerung sei aktiver Einsatz für die Demokratie. 

Kommune als Ort der Erinnerung

Vor diesem Hintergrund wird offenbar, wie wichtig es ist, in den Kommunen vor Ort gegen Angriffe auf die Demokratie und gestiegenen Antisemitismus zu kämpfen. Eine neue Broschüre des Deutschen Instituts für Urbanistik (Difu) geht dem Thema „Stadt als Ort der Erinnerung an den Nationalsozialismus und seiner Verbrechen“ nach. Dabei werden Beispiele für Gedenkinitiativen und -stätten aus Berlin, Hamburg, Köln, Hannover und Frankfurt dargestellt. 

Dabei wird deutlich, dass an vielen Orten eine spezifische lokale Erinnerungskultur und Aufarbeitung erst vor rund 40 Jahren begann. Professor Ralf Roth von der Goethe-Universität Frankfurt betont in seinem einleitenden Beitrag im Heft, wie diese lokale Auseinandersetzung in Gang kam und fortgeführt wurde. Der Prozess der Erinnerungskultur, der Umgang der Stadtverwaltungen mit dem Thema, der Einfluss der Zivilgesellschaft verläuft überall unterschiedlich, wie die Beispiele zeigen. 

Beispiel Hannover

Jens Binner, Direktor des „ZeitZentrum Zivilcourage“ in Hannover, zeichnet in seinem Beitrag nach, wie Hannover mit diesen Themen umgegangen ist und beschreibt, welche Rollen Stadtverwaltung und -politik, aber auch Vereine, Verbände und engagierte Personen beim Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit spielten. Es gibt dort ein zentrales Denkmal zur Erinnerung an den Holocaust, weitere Denkmäler erinnern an das Novemberpogrom 1938, die Verfolgung der Sinti und Roma, ein Massaker der Gestapo bei Kriegsende. 

Seit 2021 existiert darüber hinaus das Dokumentationszentrum „Zeitzentrum Zivilcourage“. Binner erläutert in seinem Text das Leitbild: „Das ZeitZentrum versteht sich als Lernort, in dem anhand von 46 Biografien von Menschen, die während der Zeit des Nationalsozialismus in Hannover gelebt haben, Themen wie Handlungsspielräume, Verantwortlichkeiten, Motivationen und Ideologien in den Mittelpunkt gestellt werden.“ Damit werde ... die gesellschaftsgeschichtliche Perspektive gestärkt und der immer noch populären Vorstellung entgegengearbeitet, im Nationalsozialismus habe eine kleine Gruppe Herrschender das gesamte Volk unterdrückt, sodass eigenständiges Handeln gegen die Diktatur aufgrund der Strafandrohungen nicht möglich gewesen sei.

Für Jens Binner hat das Vorgehen in Hannover im Umgang mit der Erinnerung an die Naziherrschaft Vorbildcharakter, allerdings warnt er: „Die akute Gefährdung der Demokratie durch den Zuspruch für rechtspopulistische Initiativen und politische Parteien verbietet es, sich selbstgenügsam zurückzulehnen. Er plädiert für eine vertiefte Forschung und Weiterentwicklung der lokalen Erinnerungskultur und fordert insbesondere zivilgesellschaftliche Initiativen zu stärken. Erinnerungskultur müsse „Stachel im Fleisch“ bleiben, „und dies kann sie nur, wenn sie keine rein staatliche Veranstaltung wird und damit Gefahr läuft, ihr gesellschaftskritisches Potenzial einzubüßen.”

Autor*in
Karin Billanitsch

ist Redakteurin beim vorwärts-Verlag und schreibt für die DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik.

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