Serie Friedliche Revolution

Aufbruch zur demokratischen Erneuerung

Petra Köpping29. Dezember 2019
Ein Radfahrer faehrt an einem geschlossenen Lebensmittelgeschaeft vorbei, aufgenommen in einem Ort in der Nähe von Gera. „Viele Menschen aus ländlichen sowie klein- und vorstädtischen Gebieten erleben eine Strukturschwächung als persönliches entwertungsgefühl“, schreibt Staatsministerin Petra Köpping.
Viele in der Gesellschaft fühlen sich politisch verlassen – Kommunen müssen ihre Gestaltungskraft zurückgewinnen.

Genau 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution sind Ostdeutschland und Sachsen offensichtlich ziemlich gespalten. In den kleineren und mittleren Städten und Gemeinden erhielt die AfD bei den Landtagswahlen in Sachsen mehr 30 Prozent. In den großen Städten blieb sie knapp unter 20 Prozent. Zum Teil ist die AfD dort stark, wo auch die NPD in der Vergangenheit hohe Ergebnisse erzielte. Doch die Mobilisierung extrem rechter Wähler ist eben nur ein Teil der Erklärung.

Derzeit sehen wir etwa die gesellschaftlichen Folgen des Wegbrechens von Sozial- und Verkehrsinfrastruktur der 2000er Jahre. Wie in der Studie „Rückkehr zu den politisch Verlassenen“ des Progressiven Zentrums beschrieben, erlebten viele Menschen aus ländlichen sowie klein- und vorstädtischen Gebieten eine Strukturschwächung der eigenen Umgebung als persönliches Entwertungsgefühl, „sei es durch das Abmontieren des öffentlichen Briefkastens oder die Streichung von Busverbindungen.“ Diese subjektive Entwertung traf den Osten das zweite Mal in kurzer Zeit – denn die Erfahrungen mit Treuhand und Abwanderung sind fest im kollektiven Gedächtnis verankert. Denn wenn damals Betriebe im ländlichen Raum und in ehemals stolzen Klein- und Mittelstädten der DDR geschlossen wurden, bedeutete das nicht nur hohe Arbeitslosigkeit, sondern auch den Verlust sozialer Aktivitäten, die zuvor über Betriebe organisiert waren. Soziale und infrastrukurelle Fragen überlagern sich daher oft mit ostdeutschen Identitätsfragen.

Auch deshalb wurden Geflüchtete zu Projektionsflächen von Ungerechtigkeitsgefühlen: Der Staat kümmert sich um so vieles, aber nicht um uns. Alltägliche Probleme würden durch die Politik nicht anerkannt, zum Beispiel, dass der Lohn nicht zum Leben reicht. Bei der Einführung des Mindestlohns von 8,50 Euro profitierte ein Viertel der Arbeitnehmer in Sachsen, gerade im ländlichen Raum. Gerade hier gibt es viel zu selten „hidden champions“ (heimliche Weltmarktführer, d.Red.), wie man sie im Westen in ländlichen Regionen findet!

Gleichzeitig erleben wir eine Krise der repräsentativen Demokratie in Ostdeutschland. Landkreise wurden zu riesigen Gebilden zusammengelegt, Polizeireviere eingespart, Finanzämter fusioniert: Die Verwaltung wurde immer ferner. Kreistage und Gemeinderäte immer unnahbarer. Manche behaupten sogar, dass der Populismus desto besser gedeiht, je größer die Gemeindezusammenschlüsse und Landkreise werden. Das Problem sind hier unterschiedliche Rahmenbedingungen zwischen Ost und West: In Sachsen sind Parteien, Zivilgesellschaft und ehrenamtliches Engagement schwächer. Viele pflegen eine schon in der DDR entwickelte Halbdistanz zu politischen Entscheidungsträgern und sind kritischer gegenüber dem Funktionieren der Demokratie. Das repräsentative System ist überaus ausgedünnt.

Schließlich ist noch das Thema „Sicherheit“ zu nennen, und zwar nicht nur in den grenznahen Regionen Ostsachsens, sondern auch in den Städten: Die AfD wird v.a. von Männern gewählt, doch auch Frauen über 60 Jahre stimmten diesmal in den Städten häufiger für die AfD: Die Angst-Debatte, man „könne sich nachts nicht mehr auf die Straße trauen“, hat scheinbar funktioniert.

Grundlegende Antworten finden

Was also tun? Wir müssen die Themen Sicherheit und soziale Fragen sozialdemokratisch, vernünftig, grundlegend und zugleich kreativ beantworten. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel: Reine Rendite-Interessen dürfen bei der öffentlichen Daseinsvorsorge nicht im Vordergrund stehen. Wir brauchen Ansprechpartner vor Ort und nicht 30 km entfernt, wo man keinen kennt. Wir brauchen Menschen, die sich in jedem Dorf um andere kümmern. Bei der Digitalisierung darf sich nicht der Fehler von Landkreisreformen wiederholen, nur die Spareffekte zu sehen: Jeder Verwaltungsmitarbeiter sollte durch Digitalisierung einfacher Verwaltungsangelegenheiten mehr Zeit erhalten, sich um die konkreten Bedürfnisse und Probleme vor Ort zu kümmern.

Wir brauchen schließlich einen Aufbruch zur demokratischen Erneuerung. Wie einst fast 30 Jahre nach Kriegsende Willy Brandt notwendige Demokratie-Reformen in der alten Bundesrepublik begann und „mehr Demokratie“ wagte, brauchen wir 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution einen ebensolchen Aufbruch. Etwa durch die Einrichtung von Bürgerhaushalten in jeder Kommune, und durch eine stabile, planbare, deutlich bessere finanzielle kommunale Grundausstattung, so dass die gewählten Gremien auch Spielraum bekommen. Kommunen müssen ihre Gestaltungskraft zurückgewinnen, durch eine Verwaltung, die handlungsfähig und eine Bürgerschaft, die beteiligungsbereit ist. Damit beleben und erneuern wir unsere Demokratie.

weiterführender Artikel