Rezension „Das wird unsere Stadt“

Wie die Bürgerbeteiligung der Zukunft aussehen kann

Carl-Friedrich Höck25. Januar 2022
Das wird unsere Stadt (Cover)
Die Autor*innen des Buches „Das wird unsere Stadt“ wollen die Demokratie von unten neu aufbauen. Sie argumentieren: Mit Community Organizing und Bürgerbeteiligung könnten lokale Gemeinschaften gestärkt werden.

Die Demokratie in westlichen Gesellschaften befindet sich in einer Krise. Diese Erkenntnis steht am Ausgangspunkt des Buches von Patrizia Nanz, Charles Taylor und Madeleine Beaubien Taylor. Das gelte besonders für Gegenden, in denen der Wandel der Industrie zu einem wirtschaftlichen Niedergang geführt hat – sei es der „Rust Belt“ in den USA oder die Lausitz in Deutschland. Die Autor*innen diagnostizieren ein sinkendes Vertrauen in die liberalen Demokratien, einen „zunehmenden Verlust ihrer Fähigkeit, Probleme zu lösen“ und eine wachsende Kluft zwischen politischen Eliten und Bevölkerung.

Die Basis wird gestärkt

Doch die demokratische Politik könne auf lokaler Ebene revitalisiert werden, meinen die Verfasser*innen. Ihre Grundidee lässt sich so umschreiben: Die Gemeinschaften vor Ort müssen wieder Zuversicht schöpfen, sich selbst organisieren und zukunftsweisende Ideen entwickeln. Wenn sie daraufhin mit einer klaren Agenda an die gewählten Politiker*innen herantreten, können diese sie nicht ignorieren.

Dieser Prozess komme jedoch oft nicht von selbst in Gang. Er müsse von außen angestoßen und gefördert werden, schreiben Nanz und die Taylors. Im Buch stellen sie konkrete Beispiele vor, wie das mittels Bürgerbeteiligung und aktivierender Arbeit – sogenanntem „Community Organizing“ – gelingen kann.

Dieser Wandel bestehe aus vier Bausteinen: Erstens eine Änderung der Grundeinstellung, sodass lokale Gemeinschaften ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen wollen. Zweitens müssen die Mitglieder einander zuhören und „neue inklusive Solidaritätsbeziehungen und Vertrauen“ knüpfen. Drittens würden durch den direkten Austausch der Betroffenen „neue Wege der Kreativität“ eröffnet. Am Ende entstehe eine Agenda, die auf einem starken lokalen Konsens basiere und politische Schlagkraft entfalte.

Beispiel „Tribune-Prozess”

Ein im Buch beschriebenes Beispiel ist der „Tribune-Prozess“ in South Wood County, USA. Einst prägten Papierfabriken die Gegend, doch Anfang der 2000er Jahre verschwanden viele Arbeitsplätze. Die gemeinnützige Bürgerstiftung Incourage initiierte einen Zukunftsdialog. Dazu mussten digitale Kommunikationswege geschaffen werden. Weil viele einkommensschwache Familien kein Internet nutzten, organisierte die Stiftung zunächst „Tech Days“ und Computerkurse. Nach weiteren Schritten, darunter 75 Bürgergespräche, hatte sich eine aktive Zivilgesellschaft formiert. Schließlich wurde ein großer Bürgerdialog gestartet, in dem die Bewohner*innen selbst entscheiden sollten, wie ein ehemaliges Zeitungsgebäude umgenutzt werden soll. Eine Firma moderierte den Planungsprozess als neutrale Instanz. Heraus kam ein Plan, der Gastronomie, ein Kunst-Studio, eine Kreativwerkstatt, Säle für Bürger*innenversammlungen und flexibel nutzbare Räume vorsieht. Aktuell werden Finanzmittel eingeworben, um den Umbau zu realisieren.

Manchmal sind es die Kommunen selbst oder andere staatliche Institutionen, die den Beteiligungsprozesse anstoßen. Das Buch erwähnt etwa die Koordinierungsstelle Bürgerbeteiligung“ der Stadt Heidelberg. Im österreichischen Bundesland Vorarlberg wurde 2015 ein Bürgerrat ins Leben gerufen, der Vorschläge für die Asyl- und Geflüchtetenpolitik des Bundeslandes erarbeiten sollte. Die 23 Mitglieder wurden per Losverfahren ausgesucht. Dieses Verfahren kam auch bei vielen weiteren im Buch beschriebenen Beteiligungsprozessen zur Anwendung: Das Los soll gewährleisten, dass unterschiedliche Ansichten und Lebensstile berücksichtigt werden und die Debatten nicht von einer engagierten (und gut organisierten) Minderheit dominiert werden.

Wohlwollende Perspektive

Die Autor*innen bringen unterschiedliche Expertise ein. Patrizia Nanz ist Politikwissenschaftlerin, Charles Taylor Sozialphilosoph. Madeleine Beaubien Taylor ist Geschäftsführerin und Mitbegründerin von Network Impact, einem Forschungs- und Beratungsunternehmen „für einen sozialen Wandel“, wie im Klappentext zu lesen ist.

Wie die Verfasser*innen des Buches zum Thema Bürgerräte stehen, ist dem Buch deutlich anzumerken: Betont werden die Vorzüge, für Skepsis ist kaum Platz. Selbst gescheiterte Verfahren werden als Erfolg gewertet. Ein Beispiel: Im kanadischen Bundesstaat British Columbia diskutierten ab 2004 Bürger*innen ein Jahr lang über eine Wahlrechtsreform. Am Ende eines aufwendigen dreistufigen Verfahrens stand ein Vorschlag, der jedoch bei einem Referendum an der nötigen Stimmenmehrheit scheiterte. Auf die Gründe dafür gehen die Autor*innen nicht weiter ein. Stattdessen betonen sie die Vorbildrolle des Prozesses für nachfolgende Verfahren in anderen Ländern.

Offene Fragen

Die einseitige Betrachtungsweise ist legitim. Nur verpassen die Autor*innen leider die Chance, auf gängige Kritikpunkte einzugehen. Dem Lesenden drängen sich Fragen auf, die weitgehend unbeantwortet bleiben: Was geschieht, wenn ein „Konsens“ der lokalen Gemeinschaft über wichtige Zukunftsthemen gar nicht möglich ist? Kann ein Losverfahren tatsächlich verhindern, dass engagierte Minderheiten (mit viel Freizeit) den Beteiligungsprozess dominieren? Ist im Einzelfall sogar möglich, dass Bürgerräte den Demokratie-Frust verstärken? Schließlich ersetzen sie nicht das Parlament oder den Gemeinderat mit seinen bestehenden Beteiligungsmechanismen. Im schlimmsten Fall droht eine Parallelstruktur, die Konfliktpotenzial birgt. Denn wer als Bürger*in eingeladen wird, sich an einem aufwendigen und mühsamen Prozess zu beteiligen, erwartet verständlicherweise, dass die ausgesprochenen Empfehlungen auch umgesetzt werden.

Lesenswert ist das Buch dennoch, weil es Lust macht, sich auf neue Wege einzulassen. Das mag nicht immer reibungslos ablaufen. Überdies wird „Community Organizing“ die Kommunen Geld kosten. Dafür birgt es Chancen, der Demokratie neuen Schwung zu geben. Das machen die zahlreichen Fallbeispiele im Buch deutlich.

Patrizia Nanz u.a.:
Das wird unsere Stadt.
Bürger:innen erneuern die Demokratie
Edition Körber, 2022, 112 Seiten, 14,00 Euro,
ISBN: 978-3-89684-292-3

 

Nachtrag der DEMO-Redaktion

Als Reaktion auf diesen Artikel haben wir das folgende Schreiben von Thorsten Sterk, Campaigner bei „Mehr Demokratie e.V.” erhalten:

Sehr geehrter Herr Höck,

mit Interesse habe ich Ihre Buchrezension "Wie die Bürgerbeteiligung der Zukunft aussehen kann" gelesen. Darin bemängeln Sie u.a. mangelnde Kritik an einzelnen Verfahren wie das des Bürgerrates zum Wahlrecht in British Columbia. Gescheitert ist hier allerdings nicht der Bürgerrat, sondern ein untaugliches Abstimmungsverfahren, das mit einem 60 Prozent-Quorum die Abstimmungsmehrheit zu Verlierern machte. Informationen zu diesem und zu einem weiteren solchen Bürgerrat finden Sie hier: https://www.buergerrat.de/aktuelles/wahlrecht-bundestag-braucht-buergers-rat/

Sie fragen außerdem ob ein Losverfahren tatsächlich verhindern kann, dass engagierte Minderheiten (mit viel Freizeit) den Beteiligungsprozess dominieren? Ja, denn das Losverfahren ist geschichtet, d.h., alle relevanten Bevölkerungsgruppen sind entsprechend ihrem Anteil in der Bevölkerung im Bürgerrat vertreten. Und das sind anders als bei anderen Beteiligungsverfahren eben nicht die „üblichen Verdächtigen”, sondern meist Leute, die vorher nie an irgendwelchen Beteiligungsveranstaltungen teilgenommen haben. Die Teilnahmemöglichkeit an Bürgerräten wird zudem dadurch verbessert, dass Teilnehmer eine Aufwandsentschädigung erhalten, sämtliche Kosten übernommen werden und für die Betreuung von Kindern und zu Pflegenden gesorgt wird. Außerdem kann bei Bedarf Kontakt mit Arbeitgebern der Ausgelosten aufgenommen werden.

Sie befürchten auch, dass Bürgerrat-Teilnehmer erwarten, dass die ausgesprochenen Empfehlungen auch umgesetzt werden. Dem ist nicht so. Bürgerrat-Teilnehmer wissen, dass sie eine beratende Funktion haben. Sie wissen deshalb auch, dass ihre Empfehlungen nicht unbedingt 1:1 umgesetzt werden. Sie erwarten aber, dass sich die Parlamente damit ernsthaft befassen und z.B. nach einem Jahr Rechenschaft darüber ablegen, was seit einem Bürgerrat passiert ist, was umgesetzt wurde und was nicht, wobei zu begründen ist, warum Empfehlungen nicht umgesetzt wurden.

Mehr Informationen zum Thema finden Sie unter http://www.buergerrat.de

Mit freundlichen Grüßen
Thorsten Sterk
Mehr Demokratie e.V.

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