Koalitionsvertrag

„Förderkulissen künftig auf Strukturschwache konzentrieren“

Karin Billanitsch26. November 2021
MdB Frank Junge denkt an „eine Art „Kommunalcheck“, der in Gesetzgebungsvorhaben des Bundes eine Rolle spielt.
Der SPD-Abgeordnete Frank Junge hat die Arbeitsgemeinschaft „Gute Lebensverhältnisse in Stadt und Land“ geleitet, deren Arbeit in den Koalitionsvertrag eingeflossen ist. Er erläutert die Kernpunkte dieses Kapitels und erklärt, warum die Ampel-Koalition künftig stärker den direkten Dialog mit Kommunalen führen will.

DEMO: Herr Junge, die Ampel-Koalition will für gute Lebensbedingungen in Stadt und Land sorgen. Gleich im ersten Absatz des Kapitels zu „Guten Lebensverhältnissen in Stadt und Land“ wird angekündigt, intensiv daran zu arbeiten, dass die „innere Einheit sozial und wirtschaftlich vollendet“ wird. Dabei sollen die Erfahrungen in Ostdeutschland für die anstehenden Transformationsprozesse genutzt werden. Welche halten Sie für übertragbar auf die westdeutschen Länder?

Frank Junge: Zunächst einmal würde ich gerne herausstellen, dass wir den Auftrag hatten, uns über gleichwertige Lebensverhältnisse auseinanderzusetzen und damit gleichsam auch über Ost-West. Wir haben hier nicht nur ein Gefälle bei der Lebensqualität zwischen urbanen und ländlich strukturieren Regionen, sondern auch nach wie vor zwischen den alten und neuen Bundesländern.

Auf Ihre Frage kommend, muss man sich die Erfahrungen der Ostdeutschen über eine lange Zeit vor Augen führen. Was der Osten erlebt hat, waren Strukturbrüche. Hier wurde das gesellschaftliche Leben komplett erschüttert und ist an vielen Stellen zusammengebrochen. Wegen dieser Umbrüche ist eine ganze Generation in die alten Bundesländer abgewandert. Damit fehlt auch heute diese Generation, wenn es darum geht, bürgerliche und demokratische Prozesse zu organisieren. Da sind aber auch Prozesse, die gemeistert worden sind.

Dort, wo es Strukturwandelprozesse gibt, wo bestimmte Regionen Probleme haben, diese Prozesse auch stellenweise lange dauern und die Bürgerinnen und Städte vor große Herausforderungen stellen, die auch nicht einfache Antworten haben, können wir die Erfahrungen im Osten nutzen – und das meinen wir, wenn wir das im Koalitionsvertrag aufgreifen. Die Erfahrungen werden uns dabei helfen, Strukturwandelprozesse leichter zu durchlaufen bzw. auch zu bewältigen.

Bei welchen Themenbereichen sehen Sie darüber hinaus die größten Baustellen, bzw. Nachholbedarf? Eingangs genannt werden etwa Digitalisierung, Energiewende, neue Formen der Mobilität.

Ich will jetzt gar nicht so sehr auf bestimmte Handlungsfelder hinaus, die wir dort genannt haben. Alle haben eine massive Bedeutung und müssen in ihrer Gesamtheit gedacht werden. Es nützt nichts, wenn wir große Anstrengungen unternehmen und Digitalisierung voranbringen, aber beim Thema Mobilität keinen Schritt weiter kommen. Das sind alles Dinge, denen wir uns insgesamt in ihrer Komplexität stellen müssen.

Besonders wichtig finde ich, dass wir bei der Vielzahl der Förderkulissen, die wir beim Bund haben und die Strukturentwicklung möglich machen, überprüfen wollen, inwieweit sie noch aktuell sind, vereinfacht werden können oder leichter zugänglich gemacht werden können.

Vor allen Dingen haben wir auf den Punkt gebracht, dass wir versuchen müssen, diese Förderkulissen künftig noch stärker auf Strukturschwache zu konzentrieren. Das halte ich für eine wichtige Aussage im Koalitionsvertrag. Wenn das gelingt,wird es dazu führen, dass die Milliarden, die wir als Bundesregierung auf den Weg bringen können, viel zielgenauer eingesetzt werde können als bisher. Bedürftige Lagen werden dann viel mehr profitieren können als bisher.

Das Fördersystem soll neu sortiert werden. Wie hat man sich das vorzustellen, bei zahlreichen verschiedenen Programmen?

Da kann ich noch keine Lösungen präsentieren. Wir haben ja schon zum 1.1.2021 das neue gesamtdeutsche Fördersystem auf den Weg gebracht. Wir wollten weg von der pauschalen Förderung West - Ost hin zu der Förderung Strukturstark - Strukturschwach. Diese Bündelung war schon ein wichtiger Schritt – aber nur ein Teilschritt. Nun erwarten wir, dass wir ein Monitoring entwickeln, wo wir ganz klare Merkmale definieren, mit denen Strukturschwäche gekennzeichnet wird. Diese Kriterien müssen dann in die Förderprogramme transformiert werden, wo man dann danach die Zuteilung anders vornimmt als bisher. Das ist der Auftrag, wie er uns vorgeschwebt hat – und jetzt muss die Bundesregierung mit diesem Auftrag Lösungen entwickeln, die wir als Parlamentarier begleiten wollen.

Im Koalitionsvertrag steht auch, dass die Ampel „leistungsfähige Kommunen mit einem hohen Maß an Entscheidungsfreiheit vor Ort“ will. Heißt das, es wird mehr Generalbudgets, nicht zweckgebunden und an viele Bedingungen geknüpft, geben? Die Kommunen wissen ja oft vor Ort selbst am besten, wie sie Gelder einsetzen wollen. Anders gefragt: Soll der „goldene Zügel“ des Bundes gelockert werden?

Wir meinen dort insbesondere, dass wir die Kommunen ertüchtigen wollen, zusammen mit Bürgerräten und mit der bürgerlichen Zivilgesellschaft solche Entscheidungsprozesse vor Ort noch besser vornehmen zu können, als das bisher der Fall war. Das war die Stoßrichtung, mit der wir uns in der AG mit diesem Punkt befasst haben.

Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Förderkulissen müssen wir dahin kommen, dass wir vereinfachen, zusammenführen, den Zugang erleichtern, die Abrechnungsmodalitäten erleichtern. Wenn uns das gelingt, dann haben wir über diesen Weg auch die Möglichkeit, am Ende für die Kommunen zu einem ganz anderen Zugang zu Finanzmitteln zu kommen, als das bisher der Fall ist.

Von kommunaler Seite kam immer wieder die Forderung, das Konnexitätsprinzip in der Ampel-Vereinbarung zu verankern. Daher dürften viele diese Passage mit großer Aufmerksamkeit lesen: „Bei neuen Aufgaben, die der Bund auf die anderen Ebenen übertragen will, wird auf die Ausgewogenheit der Finanzierung stärker geachtet. Das ist eher eine abgeschwächte Formulierung. Warum?

Die AG hat drei Seiten Papier abgeliefert, die viele Punkte enthielten, die das Problem, das wir greifen wollten ein bisschen besser gepackt haben, als das, was nachher im Koalitionsvertrag steht. Das hat bestimmt viele Gründe. Aber trotzdem bin ich froh darüber, dass diese Passage, die sie vorgetragen haben, es geschafft hat, in den KoaV zu kommen.

Unter dem Aspekt ist es ja in der Tat so, dass wir in der Vergangenheit mit Blick auf die Kommunen eine ganze Reihe von Lasten einfach übergewälzt haben, ohne uns Gedanken gemacht zu haben, inwieweit das die Kommunen an den Rand der Handlungsfähigkeit führt. Nun ist das – vielleicht in einer etwas abgeschwächteren Form als in der AG – im Vertrag drin! Ich bin froh darüber, weil am Ende ist das genau das, was wir brauchen, um über diese andere Herangehensweise den Kommunen am Ende eine Erleichterung zu bringen, die sie dringend brauchen.

Die künftige Koalition will auch ein „neues kooperatives Miteinander mit den Kommunen“. Worauf wird da abgestellt? Woran hat es denn bislang gefehlt?

Gerade die Bürgermeister, die bei uns in der Arbeitsgruppe waren, haben aus ihrer kommunalpolitischen Verantwortung heraus die Prozesse beschrieben und auch die Probleme, die sie vor Ort haben, wenn ihnen die Dinge einfach übergeworfen werden. Das hat dazu geführt, dass wir anerkennen mussten, an dieser Stelle etwas anders zu machen.

Dass man die Kommunen mehr miteinbezieht, halte ich für einen neuen Stil. Denn am Ende ist es in der Vergangenheit schon ziemlich lange so gewesen, dass Bundespolitik sich zu  wenig um Auswirkungen gekümmert hat. Das klingt jetzt stark formuliert, aber letztendlich war es so. Wenn wir jetzt ein neues Miteinander in dieser Form praktizieren wollen, ist das genau das, was wir brauchen, um am Ende die Konnexität zum Ausdruck zu bringen.

In die Richtung mehr Austausch geht es weiter: „Den direkten Dialog mit den Kommunalpolitikerinnen und -politikern und ihren Vereinigungen bauen wir aus.“ So heißt es an einer Stelle. Gibt es konkrete Pläne, wie ein direkter Draht ausgestaltet werden soll?
Auch hier haben wir keine direkten Pläne entwickelt. Wir hatten insgesamt zehn Verhandlungstage. Dafür war neben der Suche nach Kompromissen, die die Koalitionspartner mittragen würden, wenig Platz. Aber wenn man das weiterdenkt, dann lässt sich daraus durchaus ableiten, dass man bei bestimmten Gesetzesvorhaben, wo die Handlungsverantwortung der Kommunen berührt wird, ihre Vertreter in einer Form am Gesetzgebungsprozess beteiligt. Wir haben ja gegenwärtig auch Expertenanhörungen bei komplexen Sachverhalten. Wir können mit dieser Zielrichtung den Sachverstand der Kommunen in besonderer Art und Weise hinzuziehen. Ich denke an eine Art „Kommunalcheck“ den wir dann mit einführen und der in Gesetzgebungsvorhaben des Bundes eine Rolle spielt.

 

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