Bundesverfassungsgericht Urteil

Karlsruhe billigt Volkszählung

Christian Rath19. September 2018
Spaziergänger auf dem Drachenberg in Berlin. Wie viele Einwohner hat die Stadt? Nach der Volkszählung im Jahr 2011 verlor der Stadtstaat knapp fünf Prozent seiner Bürger.
Die letzte Volkszählung von 2011 verstieß nicht gegen das Grundgesetz. Das entschied jetzt das Bundesverfassungsgericht und lehnte Klagen der Stadtstaaten Berlin und Hamburg ab. Damit sind wohl auch die noch anhängigen Klagen vieler Kommunen aussichtslos. Genaue Einwohnerzahlen sind für viele politische und rechtliche Fragen wichtig, zum Beispiel für den Finanzausgleich zwischen den Bundesländern und zwischen Kommunen.
Früher musste bei der Volkszählung jeder Bürger einen Fragebogen ausfüllen. Die letzte derartige Vollerhebung fand in Westdeutschland 1987 statt in der DDR 1981. Beim Zensus von 2011 bekamen die meisten Bürger von der Zählung jedoch gar nichts mit, denn sie wurde im wesentlichen als "registergestützter" Zensus durchgeführt. In einem ersten Schritt lieferten die Meldeämter Daten über die gemeldeten Einwohner, die Arbeitsagenturen über die Beschäftigen/Arbeitslosen und die Vermessungsämter über die Gebäude. Diese Daten werden dann untereinander verglichen. Im zweiten Schritt wurde eine Stichprobe von rund 10 Prozent der Bevölkerung im klassischen Stil von Volkszählern besucht. Ziel war es, "Karteileichen" auszusortieren, also Leute die längst anderswo wohnen, sich aber nicht abgemeldet hatten.

Volkszählung: Bei großen Kommunen stärkerer Schrumpfeffekt

Die Volkszählung ergab, dass Deutschland statt 81,8 Millionen nur 80,2 Millionen Einwohner hat. Am stärksten waren Berlin und Hamburg betroffen, Berlin schrumpfte um 180.000 Personen, Hamburg um 82.000 Einwohner. Die beiden Stadtstaaten verloren damit jeweils knapp fünf Prozent ihrer Bürger. An wenigsten betroffen war Rheinland-Pfalz mit einem Verlust von 0,2 Prozent der Einwohner. Die Stadtstaaten kritisierten, dass die Methode größere Städte benachteilige. Denn nur in Kommunen mit mehr als 10.000 Einwohnern wurde die Registerauswertung durch die stichprobenhafte Befragung der Bevökerung ergänzt. Vor allem deshalb seien die Schrumpf-Effekte bei großen Kommunen deutlich ausgeprägter als bei kleinen Kommunen. Da Berlin seit 2011 jährlich 470 Millionen Euro weniger aus dem Länderfinanzausgleich bekommt, erhob der Stadtstaat eine Normenkontroll-Klage in Karlsruhe. Hamburg schloss sich an.
 
Die Verfassungsrichter stellten nun zwar fest, dass die Länder bei Bundesgesetzen einen Anspruch auf Gleichbehandlung haben. Bei einem so komplexen Vorhaben wie einer Volkszählung habe der Gesetzgeber allerdings einen weiten Gestaltungsspielraum. Die Verwendung unterschiedlicher Verfahren für große und kleine Kommunen sei dabei "vertretbar" gewesen, so die Richter. Bei sehr kleinen Kommunen sei eine Stichprobe zu ungenau, der Staat hätte dann doch alle Einwohner befragen müssen, was er aber zur Schonung der Grundrechte vermeiden durfte. Die Normenkontrolle hatte deshalb keinen Erfolg.

362 Städte gingen gegen den Zensus 2011 juristisch vor

Gegen den Zensus 2011 haben bundesweit insgesamt 362 Städte, die besonders viele Einwohner verloren, Widerspruch oder Klage eingelegt - 144 davon in Baden-Württemberg, 67 in Nordrhein-Westalen. Die Verfahren wurden von den Verwaltungsgerichten mit Blick auf das Karlsruher Verfahreen ausgesetzt. Mit dem jetzigen Urteil dürften sie sich erledigt haben, da die Kommunen ähnliche methodische Kritik geltend machten wie Berlin und Hamburg.
 
Inzwischen empfahl das Statistische Bundesamt in einer Evaluation künftig ein einheitliches Verfahren zur Korrektur von Registerfehlern zu verwenden. Diese Empfehlung müsse der Gesetzgeber beim nächsten Zensus berücksichtigen", heißt es im Karlsruher Urteil. Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle wurde in seiner Einleitung noch deutlicher: Aufgetretene Mängel seien "zu beheben". Die Finanzsenatoren von Berlin und Hamburg, Matthias Kollatz und Andreas Dressel (beide SPD) hoffen deshalb, dass die Stadtstaaten beim nächsten Zensus 2021 nicht mehr benachteiligt werden. Das Bundes-Innenministerium wird seinen Gesetzentwurf zum nächsten Zensus vermutlich Anfang 2019 vorlegen.

Städtetag bedauert Zensus-Urteil

Der Hauptgeschäftsführers des Deutschen Städtetages, Helmut Dedy, zeigt sich nach dem Zensus-Urteil unzufrieden. In einem Statement sagt er, die Entscheidung sei für die klagenden Städte schmerzhaft, weil sie die deutlich geringeren Zuweisungen bestätige. „Dies trifft neben Berlin und Hamburg auch weitere Kommunen, die mit der Methodik des Zensus 2011 nicht einverstanden waren, sie als ungerecht kritisiert und Klagen eingereicht hatten. Viele – insbesondere größere Städte – erlebten mit dem Zensus 2011 zum Teil deutlich überraschende Korrekturen der Einwohnerzahlen nach unten. Dies führte teilweise zu finanziellen Einbußen und größeren Verschiebungen bei den Kommunalfinanzen, denn nach der Einwohnerzahl richten sich vor allem der kommunale Finanzausgleich und andere finanzwirksame gesetzliche Regelungen. Die Konsequenzen für die Städte waren somit erheblich.”
 
Es dürfe nicht erneut passieren, dass Städte aufgrund des Zensus erhebliche finanzielle Einbußen erleiden, die sie überraschend und unvorbereitet treffen. „Dies muss bereits beim anstehenden Zensus 2021 berücksichtigt werden”, fordert Dedy. ”Wir begrüßen daher ausdrücklich den deutlichen Hinweis des Bundesverfassungsgerichts, dass die Erfahrungen mit dem Zensus 2011 bei zukünftigen Volkszählungen zu berücksichtigen und Anpassungen zu prüfen sind. Dies zeigt uns, dass auch das Bundesverfassungsgerichts Verbesserungen des Verfahrens für notwendig erachtet.“

Auswirkungen auf Städte und Kreise

Mit dem Zensus 2011 wurden auch die Einwohnerzahlen der kreisfreien Städte und Kreise neu bestimmt. Viele kommunale Gliederungen haben demnach weniger Einwohner, als nach der Bevölkerungsfortschreibung erwartet worden war. Andere Städte und Kreise haben dafür mehr Einwohner. (Ergebnisse: zensus2011.de)

Nach Bekanntwerden des Zensus 2011 bedauerte der Deutsche Städte- und Gemeindebund (DStGB) in einem Statement die Irritationen, „die das intransparente Verfahren der Erhebung auf kommunaler Ebene ausgelöst hat“. Von einer Empfehlung zur Klage sah der DStGB zunächst ab. Zugleich betonte der Verband: „Selbstverständlich haben die Städte und Gemeinde das Recht, für sie nachteilige Zensusergebnisse anzufechten.” (Hier das Statement aus dem Jahr 2013.) Das dürfte mit dem heutigen Urteil aussichtslos geworden sein.

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