Gespräch mit Ralph Spiegler

Kommunen: „Altschuldenfrage wird wieder auf die Tagesordnung kommen“

Ralph Spiegler, Bürgermeister der Verbandsgemeinde Nieder-Olm im Landkreis Mainz-Bingen in Rheinland-Pfalz wird den Deutschen Städte- und Gemeindebund führen.
Vom 1. Juli an wird Ralph Spiegler, Bürgermeister in Nieder-Olm, neuer Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebunds. Corona wird in der ersten Zeit sein Amt bestimmen, glaubt der Sozialdemokrat. Er lobt das Rettungspaket von Scholz, bedauert aber, dass der Plan der Altschuldentilgung gescheitert ist. „Es wäre niemandem schlechter gegangen, sondern vielen besser.“

Sie sind gelernter Jurist, waren sogar einmal Staatsanwalt. Warum hat es Sie in die Kommunalpolitik gezogen?

Ich war seit 1989 Mitglied des Stadtrats in meiner kleinen Heimatstadt und habe auch während des Referendariats – der zweiten Phase der juristischen Ausbildung – sehr viel Spaß an der Verwaltung gefunden, nicht zuletzt, weil Verwaltung im Gegensatz zur Justiz nicht nur reagiert, sondern agiert. Sie gestaltet, und wenn es nur der Bau eines Kindergartens ist. So kann man in kleinem Maße die Welt verändern.

Seit 1994 sind Sie Bürgermeister der Verbandsgemeinde Nieder-Olm. Sie wurden dreimal wiedergewählt. Das ist beachtlich – aber wie schaffen Sie es, nicht amtsmüde zu werden?

Das werde ich oft gefragt. Ich wurde auch immer wieder gefragt, ob ich andere Ambitionen im politischen Bereich habe. Da musste ich mich nie lange prüfen, weil die Kommunalpolitik für mich wirklich die Königsdisziplin ist, weil sie einen tollen Resonanzboden bietet. Ich muss über den Marktplatz gehen, ich muss zum Bäcker – und die Menschen in meiner Verbandsgemeinde sind so wie überall: Sie sagen Dir im Guten und im Schlechten, was Sache ist. Das erdet, das macht das Amt aus. Deswegen stand nie zur Debatte, etwas anderes zu machen, und deswegen habe ich auch bis heute Freude an diesem Amt.

Sie sind seit Jahren Vizepräsident im Deutschen Städte- und Gemeindebund. Das sind ja noch einmal andere Aufgaben, die Interessen der Kommunen in die Politik zu tragen. Was waren die größten Herausforderungen? 

Das Spannende an diesen Aufgaben – und da habe ich in Rheinland-Pfalz viel lernen können – ist die Unterschiedlichkeit, die es in den Gemeinden gibt. Meine Verbandsgemeinde ist relativ wohlhabend, wir sind schuldenfrei. Wir können uns relativ vieles erlauben, aber das ist nicht die Normalität in diesem Land. Man muss mit offenen Augen auf das Land schauen und verstehen, warum und weshalb andere Gemeinden anders ticken. Und das übersetzt auf die Bundesebene ist noch viel spannender, weil die Kommunalverfassungen in jedem Land anders sind. Die Konstruktionen, die Zuständigkeiten, auch die Ko-Finanzierungen durch das Land sind verschieden – das macht die Aufgabe noch herausfordernder.

Sie wurden in einer außergewöhnlichen Zeit ins Präsidentenamt gewählt: Die Städte und Gemeinden haben gerade massiv mit den Folgen der Corona-Krise zu tun. Nun verspricht der Bund Unterstützung, das geplante Konjunkturpaket enthält Milliardenhilfen für die Kommunen. Sind Sie zufrieden?

Ich bin zunächst einmal erstaunt über die Größenordnung. Wir reden ja über 130 Milliarden Euro. Diese Dimensionen waren, bevor die Gespräche aufgenommen wurden, nicht zu erwarten. Ich bin auch zufrieden über den Ersatz der Gewerbesteuer und die Erhöhung des Bundesanteils an den Kosten der Unterkunft für Bezieher von Sozialleistungen, das ist ein Pfund gegenüber den Kommunen. Ich bin auch sehr zufrieden mit den Investitions- und Förderprogrammen, die aufgelegt worden sind. Nach meinem Eindruck ist darin fast nur auf die Zukunft Gerichtetes enthalten. Natürlich kann man darüber diskutieren, ob ein Diesel gefördert werden soll – doch ich bin froh, dass zum Beispiel Dieselautos nicht gefördert worden sind, sondern dass es überall da, wo gefördert wird, zukunftsweisende Techniken und Maßnahmen sind.

Aus sozialdemokratischer Sicht hätte ich mir gewünscht, dass Olaf Scholz sich mit dem Plan der Altschuldentilgung durchsetzt. Ich weiß, die Union und verschiedene Bundesländer tun sich damit schwer und begründen dies damit, die Kommunen mit hohen Liquiditätskrediten, insbesondere in NRW, im Saarland und in Rheinland-Pfalz hätten schlecht gewirtschaftet. Das ist schlichtweg falsch. Diese Länder hatten alle einen gewaltigen Strukturwandel zu bewältigen. Ich erläutere das mal am Beispiel Rheinland-Pfalz. Das Land ist sozusagen der „Flugzeugträger der NATO“ in Europa gewesen. Als die Streitkräfte sich zurückgezogen haben nach der Wende, gab es keine Subventionsprogramme für Konversion. Es gibt jetzt – wie ich finde zu Recht – Kohle für Kohle, es gibt Geld für den Ausstieg aus der Kernkraft. Rheinland-Pfalz hat damals nichts bekommen und hat den Wandel hin zu einem Land, das immer noch gut funktioniert, geschafft. Da ist es nicht ganz seriös zu sagen: Die haben Schulden gemacht und es ist auch in hohem Maße unsolidarisch. Das waren andere Voraussetzungen.

Durch den Scholz-Plan wäre ja niemandem etwas genommen worden. Scholz hat das 45Milliarden-Paket in den Raum gestellt und hat gesagt: Wir ertüchtigen die Kommunen landauf, landab, damit sie endlich wieder arbeiten können. Das betrifft natürlich im Wesentlichen NRW, Saarland und Rheinland-Pfalz. Aber es wäre eine gute Maßnahme gewesen, zumal Scholz einen Ausgleichmechanismus für die Länder vorgesehen hat, die sich bereits auf den Weg der Entschuldung gemacht haben. Es wäre niemandem schlechter gegangen, sondern vielen besser. Dass dies nicht Eingang ins Gesamtpaket gefunden hat, bedauere ich schon sehr. Ich bin mir aber auch sicher, dass Städte, Landkreise und Gemeinden bei dieser Frage nicht stillhalten werden und das wieder und wieder auf die Tagesordnung bringen.

Was muss als Nächstes angepackt werden, damit die Kommunen die Corona-Krise gut überstehen?

Es gab immer ein Thema, das übergeordnet über allem stand, das waren die Finanzen, ganz einfach deshalb, weil sich daraus die Umsetzbarkeit der allermeisten  Herausforderungen ableiten lässt. Die Herausforderungen im Bereich der Bildung, der Digitalisierung, der Ertüchtigung der Infrastruktur, der Ausbau von ÖPNV und SPNV und nicht zuletzt auch die Angebote der Städte und Gemeinden im kulturellen und im sozialen Bereich, all das wird sich nur mit einer angemessenen Finanzausstattung der Kommunen erreichen lassen.

Wenn man es noch stärker reduzieren will, dann gilt es, den Anforderungen „Wohnen, Arbeiten/Bildung und Verkehr“ Rechnung zu tragen mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten, je nachdem, ob man im städtischen/verdichteten oder eher im ländlichen Raum agiert. Während im städtischen Raum Arbeit/Schule und Verkehrsinfrastruktur tendenziell eher unproblematisch sind, ist das Wohnen insbesondere für finanzschwache Menschen oft ein Problem, umgekehrt mag im ländlichen Raum zwar das Wohnen  günstig, dafür aber der Arbeitsplatz/die Schule weiter entfernt und mit ÖPNV nur schwer erreichbar sein. Dies in Einklang zu bringen und auszugleichen, ist eine der großen Herausforderungen.

All das wird im Moment überlagert von Corona. Wir müssen folgenden Schwung aus der Krise mitnehmen: Die Kommunen haben während der Krise bewiesen, dass sie schlagkräftig sind. Ich bin wirklich stolz auf die Mitarbeiter in den Rathäusern! Was da geleistet worden ist, ist enorm. Sie haben bewiesen: Wir sind in der Krise da, und wir können solche Situationen managen. Man muss uns nur dauerhaft dazu in die Lage versetzen. Da fehlt es aber an finanziellen Ressourcen. Platt gesagt: Ohne Moos nichts los.

Wir haben ja auch gerade darüber gesprochen, viel Geld wird fließen. Was muss man nun anpacken mit diesem Geld?

Es gibt ja bereits eine Reihe von Förderprogrammen, bei denen das Geld nur in geringem Maße abgerufen worden ist. Das hat zwei Gründe: zum einen personelle Engpässe in den Verwaltungen, wir haben uns, insbesondere im technischen Bereich mehr und mehr verschlankt. Jetzt fehlen oftmals personelle Ressourcen  in den Rathäusern. Zweitens ist es so, dass die Verfahren, gelinde gesagt, häufig kompliziert sind. Wenn es beispielsweise europäisches Geld für eine Partnerschaftskonferenz gibt, lässt eine kleine Kommune wie wir es gleich ganz sein. Ich müsste da mehr Manpower hineinstecken, als am Ende an Förderung herauskommt. Die Antragsverfahren müssen vereinfacht werden. Alle schreiben sich Entbürokratisierung und Vereinfachung auf die Fahnen – aber ich habe noch keinen Bundes- oder Landesminister gesehen, der es wirklich gemacht hätte.

Rathäuser mussten plötzlich digital arbeiten, die Verwaltung zu großen Teilen im Homeoffice. Wie waren Ihre Erfahrungen dabei? 

Zwei Erfahrungen: Zum einen haben wir –so hat das auch ein Großteil der Kollegen gemacht, die ich kenne – das Rathaus halbiert. 50 Prozent, die A-Schicht, waren im Rathaus, die andere Hälfte im Homeoffice. Nach zwei Wochen kam dann der Wechsel, die B-Schicht kam ins Rathaus, die A-Schicht musste nach Hause. Das funktioniert ganz gut als Weg durch den Krisenmodus.

Auf Dauer ist Homeoffice, glaube ich, keine Lösung für Rathäuser. Es ist eine Chance, aber kein Dauerzustand. Es ist eine Nische, die man für besondere Situationen nutzen kann, etwa familiärer Art oder in der Projektbetreuung. Auf Dauer gesehen sollte ein Rathaus geöffnet und mit Menschen besetzt sein.    

Zweitens ist es schön zu sehen, dass man nicht für ein einstündiges Gespräch durch die Welt reisen muss. Das kann man online machen – aber für den Gesprächsleiter ist das viel anstrengender als eine normale Sitzung. Und als Teilnehmer, zumindest bei mir ist das so, werde ich oftmals unaufmerksam. Videokonferenzen stoßen auch an Grenzen. Aber es ist ein tolles Instrument und überall auch angekommen. Man sollte es nutzen, aus ökologischen wie aus Zeitgründen.

Hat denn die Krise auch eine Chance gebracht, Stichwort Digitalisierungsschub oder nachhaltige Mobilität?

Beides. Es hat ungeahnte Kräfte freigesetzt, auch in Kommunen, die sich bisher gelegentlich gesträubt haben, hat dieser äußere Druck zu einem Schub geführt. Das ist auch nicht mehr rücknehmbar. Natürlich fehlt teilweise Infrastruktur, die Voraussetzung für Digitalisierung. Nicht jede Milchkanne ist eben ausreichend mit Internet versehen. Quer durch die Republik gibt es in ländlichen Bereichen Nachholbedarf. Das ist wesentliche Grundlage für gleichwertige Lebensverhältnisse in unserem Land. Aber was wir an Erfahrungen in den letzten drei Monaten gemacht haben, ist nicht mehr umkehrbar.

Und das hat unmittelbar Auswirkungen auf unser Mobilitätsverhalten. Wir haben innerhalb weniger Tage ohne Flüge oder lange Anfahrten zu Konferenzen unsere Arbeit verrichten müssen – und wir haben bewiesen, dass es funktionieren kann. Das gilt sicher nicht immer und für alle Fälle, aber sicher doch für eine Vielzahl von Gelegenheiten.

Gleichzeitig leiden ÖPNV und SPNV unter den Folgen von Corona. Hier gilt es, nicht nachzulassen in unseren Bemühungen, diese Mobilitätsformen zu stärken und auszubauen.

Welche Projekte wollen Sie in ihrer Amtszeit als Präsident als erstes angehen?

Die erste Zeit wird überlagert sein von Corona. Die Rathäuser rechnen jetzt überall die Auswirkungen für die kommenden Haushaltsjahre aus. Im Vergleich zum wirtschaftlichen Einbruch im Jahr 2008 wird die Erholungsphase deutlich länger dauern. Ich bin kein Volkswirt – aber es wird keine V-Kurve sein, wie wir sie 2008/2009 erlebt haben, sondern ein lang gezogenes U. Corona und die Folgen werden die Agenda der nahen Zukunft bestimmen.

Aber dahinter verbergen sich die zentralen Themen der letzten Jahre, wie ich sie oben bereits angerissen habe: Neben einer sachgerechten Finanzausstattung brauchen wir den Dreiklang von Wohnen, Arbeiten/Bildung und Verkehr. Das ist kein Programm, das man in zwei, drei Jahren umsetzt, das muss auf der Agenda des nächsten Jahrzehnts stehen.

Die Präsidiumsmitglieder kommen ja aus unterschiedlichen Parteien. Wie wirkt sich das auf die Alltagsarbeit im DStGB aus? Wie schafft man es, an einem Strang zu ziehen?

Als ich 2012 Vorsitzender des rheinland-pfälzischen Städte- und Gemeindebundes geworden bin, habe ich gesagt, dass der Verband ein hochpolitischer, aber kein parteipolitischer Verband ist. Das gilt für den Deutschen Städte- und Gemeindebund auch. Es entwickeln sich Beziehungen und Freundschaften über Parteien hinweg. Denn über allem steht die Definition, dass wir die Gewerkschaft der Kommunen sind. Mit diesem Selbstverständnis möchte ich an die Arbeit gehen, ohne dass ich mein sozialdemokratisches Parteibuch abgebe. Es gibt schon mal Streit oder Scharmützel bei einzelnen Fragen – wie etwa den Altschulden. Aber ich kenne keinen, der nicht ernsthaft sagen würde: Das ist keine Parteipolitik, hier streiten wir für unsere Kommunen. Mit diesem Selbstverständnis funktioniert das gut.

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