Pflegenotstand in Deutschland

Warum tausende Pflegekräfte gebraucht werden

Jonas JordanKarin Billanitsch11. September 2018
Studie: In nicht einmal 20 Jahren könnten bis zu 175.000 weitere Beschäftigte in der Pflege benötigt werden.
175.000 zusätzliche Pflegekräfte werden in Deutschland bis 2035 benötigt. Das hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) berechnet.

Immer mehr Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. Alleine zwischen 1999 und 2015 sei die Zahl von zwei Millionen auf mehr als drei Millionen Menschen gestiegen, referierte IW-Direktor Michael Hüther. Am Montagvormittag stellte er mit der Autorin Susanna Kochskämper eine Prognose seines Instituts zum Pflegenotstand in Deutschland vor. Bis 2035 werde es wohl vier Millionen Pflegebedürftige geben, so die Schätzung. In den Bundesländern gibt es indes Unterschiede. Die Studie kann hier heruntergeladen werden.

Knapp eine halbe Million Beschäftige arbeiten momentan in Deutschland im Pflegebereich, davon 244.000 Altenpfleger und 228.700 Altenpflegehelfer. Im vergangenen Jahr waren durchschnittlich pro Monat 14.220 offene Stellen für Altenpfleger und 8.000 für Altenpflegehelfer gemeldet. Zwar steigen auch die Ausbildungszahlen seit Jahren deutlich an. Doch dieser Trend reiche nicht aus, um den wachsenden Bedarf in der Altenpflege nicht kompensieren. Dadurch entstehe laut Hüther ein „deutlicher Engpass", der sich bis zum Jahr 2035 vergrößern könnte.

Hüther fordert Deregulierung

Das IW hat anhand der heutigen Zahlen und angesichts des demografischen Wandels den künftigen Bedarf an Pflegefachkräften errechnet. Demnach könnten in nicht einmal 20 Jahren bis zu 175.000 weitere Beschäftigte in der Pflege benötigt werden. Um diesem Fachkräftemangel zu begegnen schlägt Hüther vor, den Pflegebereich stärker zu deregulieren: „Die Regulierung sollte flexibilisiert werden. Sonst bleiben alle politischen Bemühungen stecken und der Effekt ist überschaubar."

Hüther forderte insbesondere, dass Pflegeeinrichtungen auch gewinnorientiert wirtschaften sollten: „Bislang ist es ein System, das aus sich heraus keine Innovation zulässt." Die Regulierung verhindere, dass beispielsweise mehr in den Bereich Digitalisierung investiert werde. Sie führe außerdem dazu, dass Altenpfleger finanziell deutlich schlechter gestellt seien als Gesundheits- und Krankenpfleger, referierte der Direktor des arbeitgebernahen Wirtschaftsinstituts.

Politische Reformen reichen Hüther nicht aus

In den vergangenen Jahren hat die Bundesregierung das Pflegestärkungsgesetz auf den Weg gebracht, für eine neue Definition des Pflegebegriffs gesorgt und eine einheitliche Ausbildung in der Altenpflege, der Kranken- und Kinderkrankenpflege angestoßen. Maßnahmen, denen der IW-Direktor Positives abgewinnen kann. Doch diese Reformvorhaben reichten laut Hüther nicht aus.  Er fordert, die Finanzierung der Pflege stärker in den Fokus der politischen Debatte zu nehmen. Außerdem sprach sich Hüther dafür aus, politisch zu diskutieren, inwiefern die Einführung einer Pflegevollversicherung sinnvoll sein könnte. In diesem Fall sprach er sich für „eine zweite Säule in Form eines kapitalgedeckten Systems" aus, da ansonsten die Kosten angesichts einer alternden Bevölkerung aus dem Ruder zu laufen drohten. Die finanzielle Mehrbelastung durch den höheren Bedarf an Beschäftigten im Pflegebereich bis 2035 ist allerdings nicht der Teil der Berechnungen des Instituts.

Heike Baehrens: „Finanzierung langfristig und solidarisch gestalten“

Heike Baehrens, die Pflegebeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, forderte mit Blick auf die neue Prognose: „Wir müssen verschiedene Maßnahmen ergreifen, um nachhaltige Verbesserungen in der Pflege zu erreichen. Nur so werden wir für die Zukunft gewappnet zu sein." Ein wichtiges Ziel sei es, mehr Pflegekräfte für die Ausbildung oder für eine Rückkehr in den Beruf zu gewinnen. „Mit dem „Sofortprogramm für die Pflege" und der „Konzertierten Aktion Pflege" stellen wir dafür die richtigen Weichen", sagt Baehrens und fordert: “Wir brauchen verbindliche Tarifverträge mit guter Bezahlung und bessere Personalschlüssel in der direkten Pflege." Dieser doppelte Ansatz trage dazu bei, dass der Pflegeberuf anerkannt und honoriert werde.

Abschließend fordert Baehrens: „Für eine zukunftsfeste Pflege muss auch die Finanzierung langfristig tragfähig und solidarisch gestaltet werden. Dabei ist zu gewährleisten, dass Pflegebedürftige und ihre Angehörige nicht überlastet werden." 

Unterschiedliche Belastung der örtlichen Träger

Allerdings können sich in Deutschland immer mehr Menschen die Kosten für ihre Pflege nicht leisten und sind deshalb auf die Sozialleistung „Hilfe zur Pflege“ angewiesen. Hier springen die örtlichen Sozialhilfeträger ein. Darauf machte eine frühere Studie des IW aufmerksam. Im Jahr 1998 erhielten rund 222.000 Bundesbürger die steuerfinanzierte „Hilfe zur Pflege“ – im Jahr 2016 waren es schon 347.000 – weil immer mehr Menschen auf Unterstützung für pflegerische Maßnahmen angewiesen sind. Für die kommunalen Sozialhilfeträger sind die Kosten laut IW allein von 2003 bis 2016 um 45 Prozent auf 4,3 Milliarden Euro gestiegen und machen mittlerweile demnach rund ein Siebtel der gesamten Sozialhilfeausgaben aus.

Regional gibt es große Unterschiede: Laut IW haben im Jahr 2015 24 Prozent der Menschen die Sozialleistung „Hilfe zur Pflege“ bekommen, gefolgt von Berlin (22 Prozent und Bremen (17 Prozent). Am unteren Ende der Skala stehen Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Brandenburg, wo 7 Prozent der Pflegebedürftigen die Unterstützung beziehen. Bundesweit liegt der Anteil seit 1998 im Schnitt zwischen 12 und 13 Prozent.

Städte mehr belastet

Zudem zeigt sich, dass insbesondere in den Städten überproportional viele Pflegebedürftige auf finanzielle Hilfe angewiesen sind: „Von den 26 Regionen, in denen der Anteil mindestens 20 Prozent beträgt und damit deutlich über dem Bundesdurchschnitt von rund 12 Prozent liegt, sind 25 kreisfreie Städte“ hat das IW ausgewertet.

Warum sind die Städte besonders stark betroffen? Fragen die Autoren und geben gleich die Antwort: Das könne zum einen daran liegen, dass dort die Pflegebedürftigen seltener durch Familienangehörige versorgt würden als in ländlichen Regionen. Eine andere Vermutung ist, dass die Pflege in Metropolregionen oft besonders teuer sei und die Betroffenen deshalb häufiger auf die staatliche Hilfe angewiesen seien.