Wie die Chance auf Teilhabe vom Geburtsort abhängt
Kinder und Jugendliche wachsen in Deutschland je nach Wohnort mit unterschiedlichen Möglichkeiten zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auf, so eine neue Studie. Sie wünschen sich häufig mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten, öffentliche Räume für ihresgleichen und eigenständige Mobilität.
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Jugendliche haben ein großes Bedürfnis nach Autonomie und wünschen sich oft einen Ort, den sie sich selbstbestimmt erschließen und gestalten können. Doch in ländlichen Gebieten mangelt vielerorts an geeigneten Räumen. Das Bild zeigt einen Jugendtreff in einem Dorf.
Menschen in Stadt und Land sollen die gleichen Chancen haben, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, das ist ein wichtiges Anliegen der Politik in Deutschland. Doch die Unterschiede bei den Lebensverhältnissen zwischen wohlhabenden und strukturschwächeren Regionen sind groß. Das wirkt sich auch auf die Teilhabemöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen aus, hat das Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung laut der neuen Studie „Teilhabeatlas Kinder und Jugendliche“ herausgefunden. „Für sie entscheidet Teilhabe auch darüber, wie sich entwickeln, über ihre Bildung, ihren Berufsweg, letztlich über ihre Zukunft“, betonte Katharina Hinze, Direktorin des Berlin-Instituts.
Auffällige Unterschiede bei Kinderarmut
Die Autor*innen der Studie haben in 400 Kreisen und kreisfreien Städten Hürden für Teilhabe untersucht, darunter auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Auffällig sind die Unterschiede bei der Kinderarmut: Während in manchen Gegenden im Ruhrgebiet 20 bis 30 Prozent der Kinder in Armut aufwachsen, liegt der Anteil in wirtschaftlich prosperierenden Gegenden im Süden Deutschlands laut der Studie bei unter vier Prozent. Damit korrespondieren Zahlen zum Schulabschluss: „In einzelnen Regionen verlassen rund 15 Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss, in anderen sind es nur drei Prozent“ stellte Claudia Härterich vom Berlin-Institut fest.
Dabei nehmen die Forscher*innen an, dass die Teilhabechancen umso niedriger sind, je höher die Kinderarmutsquote beziehungsweise der Anteil der Schulabgänger*innen ohne Abschluss ist. Auch die Jugendarbeitslosigkeit sei in Regionen mit hoher Kinderarmut überdurchschnittlich hoch, hieß es. Ein weiteres Ergebnis der Studie ist, dass Kinderarmut am häufigste in städtisch geprägten Regionen und Städten mit teils hohen Teilhabehürden am häufigsten ist. „Echte Chancengleichheit sieht anders aus“, kommentierte Manuael Slupina von der Wüstenrot-Stiftung, die die Studie mit herausgegeben hat.
Investitionen in Schulen und Bildung gefordert
Das Forscherteam empfiehlt mit Blick auf diese Ergebnisse „gezielte Investitionen in die Qualität von Schulen, in außerschulische Bildungsangebote und die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen, die weniger Teilhabemöglichkeiten haben“. Der Anteil junger Menschen Anteil an der Gesellschaft werde außerdem immer kleiner. „Gerade in einer alternden Gesellschaft brauchen wir jedes Kind und jede*n Jugendliche*n gut ausgebildet, gesund und mit guten Startbedingungen für die Zukunft, betonte Katharina Hinze.
Um die Ergebnisse der Datenanalyse zu vertiefen, ist das Forscherteam in acht ausgewählte Landkreise und Städte gereist, um mit Kindern und Jugendlichen, aber auch mit Erwachsenen aus der Kinder- und Jugendarbeit zu sprechen. Sie wählten Ingolstadt, Weimar und Wuppertal sowie den Wetterau-Kreis, den Neckar-Odenwald-Kreis, den Landkreis Potsdam-Mittelmark den Kreis Segeberg und den Landkreis Görlitz aus. Jede Kommune steht jeweils repräsentativ für eine Gruppe von Kommunen, die von „teilhabefreundlich“ (Ingolstadt, Wetteraukreis) bis hin zu „mit teils hohen Teilhabehürden“ (Wuppertal, Landkreis Görlitz) definiert sind.
Räume zur Freizeitgestaltung
Dabei hat sich herauskristallisiert: „Junge Menschen bewegen fast immer drei Hauptthemen: Freizeitgestaltung, Selbstbestimmung und Beteiligung“, so Johanna Okroi von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Junge Menschen forderten selten Jugendarbeit, sondern Raum für sich. „Eine Sofaecke, ein paar Tische und Stühle würden schon reichen. Ein Raum der warm ist, und wo man einfach nur Karten spielen kann“, sagt ein Jugendlicher in Segeberg. „Bei schlechtem Wetter gibt es nichts oder man braucht eben Geld“, so eine andere Jugendliche in Ingolstadt.
Kostenlose und vielfältige Freizeitangebote zu schaffen, wo Freundschaften gepflegt, Sport oder Musik gemacht oder Medien genutzt werden könnten, sei deshalb sehr wichtig, heißt es. „Wir empfehlen Ländern und Kommunen, für eine verlässliche Finanzierung von Freizeitreffs zu sorgen“, empfehlen die Forscher*innen. Viele wünschten sich öffentliche Räume, die sie selbstbestimmt gestalten könnten. „Für den Jugendclub kommen viele aus den umliegenden Dörfern in die Stadt, weil die bei sich so was nicht haben“, erzählt ein Jugendlicher in Görlitz.
Deshalb sei es wichtig, dass junge Menschen bei der Stadt- und Gemeindeplanung mitbedacht und miteinbezogen würden, betonen die Autor*innen der Studie. „Doch selbst, wo Platz vorhanden ist, fehlt es oft am politischen Willen, diese Räume jungen Menschen zur Verfügung zu stellen“, lautet die Kritik.
Eigenständige Mobilität
Genauso wichtig ist es, dass Kinder- und Jugendliche sich am Wohnort eigenständig bewegen könnten, stellten die Wissenschaftler*innen fest – und fordern daher, „Fuß- und Radwege und den ÖPNV entsprechend und unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen auszubauen“. Darüber hinaus sollten auch Schulen „zu Orten echter Beteiligung“ gemacht werden. „Die Ergebnisse zeigen, dass die jungen Menschen insbesondere bei der Ausgestaltung des eigenen Schulumfelds mitentscheiden wollen. Und dazu präzise Vorstellungen haben“, lautet ein Ergebnis. Allerdings, das kritisiert der Teilhabeatlas auch, haben sie häufig das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Und das ist manchmal weniger eine Frage des Geldes, als der Haltung der Politik gegenüber jungen Menschen.
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Ralf Bauer
ist Redakteurin beim vorwärts-Verlag und schreibt für die DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik.