Wie gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland garantiert werden können, gehört zu den wichtigsten politischen Fragen der kommenden Jahre. 2018 wurde sogar eigens eine Kommission eingesetzt, die darauf Antworten entwickeln sollte. Wenn die Landrätin des Landkreises Gießen Anita Schneider recht hat, könnten sich die Probleme sogar noch verschärfen. Denn die Corona-Krise werde das wirtschaftliche Wachstum einschränken und damit auch Ungleichheiten vergrößern, sagte sie am Dienstag im Rahmen einer Online-Konferenz.
Unter dem Titel „Neuer Schub für die Entwicklung der ländlichen Räume“ hatte die Friedrich-Ebert-Stiftung gemeinsam mit der Bundes-SGK zur Diskussion eingeladen. Kommunalpolitiker*innen aus dem ganzen Bundesgebiet nahmen an den digitalen Debatten teil.
Funktionierende Daseinsvorsorge stärkt Chancen
Landrätin Schneider warb in ihrem Eröffnungsvortrag dafür, die Daseinsvorsorge zu stärken, um die Chancen ländlicher Räume zu verbessern. Dazu gehörten gute Breitband- und Mobilfunkanbindungen. Der Homeoffice-Anteil in der Arbeitswelt „hat sich von 12 auf 25 Prozent mehr als verdoppelt“, sagte Schneider bezugnehmend auf die Corona-Krise. Das erhöhe den Druck auf Unternehmen, eine digitale Infrastruktur für die Heimarbeit zu schaffen. Neue Arbeitsformen wie Co-Working-Spaces oder „Digitale Dörfer“ seien eine Chance für die ländlichen Räume. Das Projekt Digitale Dörfer könne auch genutzt werden, um das Miteinander wieder zu stärken. Denn die Vorstellung, dass das soziale Miteinander auf dem Dorf stets besser funktioniere, sei „teilweise eine romantische Vorstellung“. Manche Dörfer seien reine Schlaf- oder Wohnstätten.
Auch günstiger Wohnraum sei auf dem Land nicht überall zu haben. Im Landkreis Gießen rufe das Umland teils ähnliche Preise auf wie die Stadt selbst. Vor allem aber müsse man hier Strukturpolitik betreiben, um die Dorfkerne intakt zu halten und den Mangel an barrierefreien Wohnungen zu beheben.
Neue Chancen für die Versorgung
Schneider nannte noch weitere Felder der Daseinsvorsorge, die gestärkt werden müssten. Etwa den Öffentlichen Nahverkehr – hier gehe es unter anderem darum stillgelegte Bahnstrecken zu reaktivieren. Dazu brauche es neue Bewertungsverfahren, damit für Strecken im ländlichen Raum nicht dieselben Maßstäbe angelegt werden wie an S-Bahnen in Metropolen. Das neue Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) bewertete Schneider als Schritt in die richtige Richtung und Chance. Im Gesundheitsbereich könnten „Med-Zentren“ helfen, eine ausreichende ärztliche Versorgung zu sichern.
Änderungsbedarf sieht Anita Schneider in der Ansiedlungspolitik. Der Blick müsse stärker auf gemeinwohlorientierte Ansiedlungen gerichtet werden, damit Kommunen auch Kriterien für die Entwicklung vorgeben können. Derzeit dominierten Investorenmodelle. Schneider meint jedoch, dass nicht Investoren darüber entscheiden sollten, wie sich Gewerbegebiete entwickeln – etwa mit Blick auf ökologische Aspekte und zukunftsfähige Arbeitsplätze –, sondern dass es einer Steuerung durch die Kommunen bedürfe. Dies sei aber auch eine Frage von Geldern, die für die Entwicklung zur Verfügung stehen.
„KoDörfer” und Ansiedlungs-Werbung
Wie die Digitalisierung konkret für die ländliche Entwicklung genutzt werden kann, stellte Frederik Fischer an einem Beispiel dar. Fischer ist Geschäftsführer von Neulandia und koordiniert das Projekt „KoDorf“. Die Idee: Eine Genossenschaft errichtet Häuser, Co-Working-Spaces und Gemeinschaftsflächen auf dem Land. In Wiesenburg hat sich das Projekt rund um ein ehemaliges Sägewerk angesiedelt, das direkt am Bahnhof liegt. Letzteres sei eine wichtige Voraussetzung, da man Menschen ansprechen wolle, die Auto-unabhängig leben wollen, erklärte Fischer.
Im brandenburgischen Wittenberge wird Stadtmenschen aus der Kreativwirtschaft mit einem „Summer of Pioneers“ ein Angebot gemacht, Fischer nennt es „Rundum-sorglos-Paket“. Ein halbes Jahr lang können sie das Leben auf dem Land austesten, bekommen eine möblierte Wohnung und einen günstigen Arbeitsplatz im Co-Working-Space. So können sie die Stadtwohnung erst einmal behalten, bis sie sicher sind, ob das neue Leben in Wittenberge ihnen zusagt.
Die Gemeinde soll profitieren
Die Kommune unterstützt das Projekt, außerdem gibt es Fördergelder unter anderem vom Land Brandenburg. Im Gegenzug soll die Gemeinde laut Fischer von den Pionieren profitieren. So werde Infrastruktur geschaffen, die dem ganzen Ort zur Verfügung stehe. Und es werde Leerstand aktiviert: Am Bismarckplatz hätten die Pioniere einen Laden renoviert und als Kultur- und Veranstaltungsort genutzt. Das Projekt schaffe einen Imagewandel für den Ort, der in den Medien nun als Modellregion und Vorbild beschrieben werde.
Fischer geht auch davon aus, dass Projekte wie das KoDorf eine Strahlkraft entwickeln und weitere Projekte anziehen. Von „Speckwürfeln“ spricht er – analog zu den Speckgürteln rund um strukturstarke Städte. Das KoDorf-Konzept funktioniere, ist Fischer überzeugt. Es werde bereits auf weitere Standorte übertragen, darunter Erndtebrück in Nordrhein-Westfalen.
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fes.de