Bildung

Digitalisierung: „Corona ist ein lautes Warnsignal, dass viele Schulen hinterherhinken“

Kai Doering21. September 2020
Digitaler Unterricht wird wichtiger – nicht nur daheim, sondern auch im Klassenraum.
Als Corona ausbrach, war Kevin Hönicke Lehrer an einem Berliner Gymnasium. Inzwischen ist er stellvertretender Bezirksbürgermeister von Lichtenberg. Im Interview sagt er, warum die Schulen dringend digitaler werden müssen und welche Aufgabe die Politik dabei hat.

Vor einem Jahr sind Sie selbst noch mit Ihren Schüler*innen ins neue Schuljahr gestartet. Sind Sie froh, dass sie das in diesem Jahr nicht mussten?

Mein neues Amt als stellvertretender Bezirksbürgermeister macht mir tierisch Spaß. Ein bisschen fehlt mir die Schule aber schon, auch wenn ich natürlich weiter im Kontakt mit Schülern und Kollegen bin. Die Debatte über den Schulstart nach den Sommerferien unter Corona-Bedingungen verfolge ich da aus zwei Perspektiven – aus der des ehemaligen Lehrers und der eines politisch Verantwortlichen.

Auf Twitter haben Sie die Entscheidung, die Schulen wieder regulär zu öffnen, verteidigt. Warum ist der Präsenzunterricht so wichtig?

Kevin Hönicke

Als die Corona-Pandemie in Deutschlang begonnen hat und die Schulen geschlossen wurden, war ich noch als Lehrer an der Schule. Da habe ich gemerkt, welche Probleme es gibt – auch wenn ich das Glück hatte, dass ich an einer Schule war, die digital sehr gut aufgestellt ist. Ich konnte deshalb auch sehr schnell digitalen Unterricht mithilfe von Videokonferenzen machen. Der Unterschied zum Unterricht im Klassenraum ist aber schon groß. Die Beteiligung ist in einer Videokonferenz ganz anders und als Lehrer muss man viel deutlicher auf die einzelnen Schülerinnen und Schüler achten, besonders auf die Gesichter, was nicht immer ganz leicht ist. Mitzubekommen, wer dem Unterricht gerade folgen kann und wer nicht, ist schwieriger als im Klassenraum. Das miteinander Lernen ist im digitalen Unterricht deutlich eingeschränkter.

Was bedeutet das für die Leistung der Schüler*innen?

Im regulären Unterricht nehmen sich oft die ohnehin schwächeren Schülerinnen und Schüler zurück. Das ist im digitalen Unterricht ganz ähnlich. Allerdings habe ich beobachtet, dass sich hier auch die eigentlich starken Schüler nicht so sehr beteiligen wie sie es im Klassenraum tun würden. Als Lehrer arbeitet man im digitalen Unterricht also mehr mit dem Mittelfeld. Dabei ist es schwer, ein Gefühl dafür zu bekommen, wo die einzelne Schülerin, wo der einzelne Schüler steht. Das Wahrnehmen der Kinder ist beim Unterricht zuhause extrem schwierig. In der Schule geht es ja aber nicht nur darum, Lehrstoff zu vermitteln. Sie ist auch ein Sozialraum, den Videokonferenzen nicht ersetzen können. Deshalb finde ich Präsenzunterricht auch so wichtig.

Wo kann ihn digitaler Unterricht dennoch sinnvoll ergänzen?

Digitaler Unterricht ist total gut, um zusätzliche Angebote zu machen. Ich habe schon früh mit digitalen Plattformen gearbeitet und z.B. mein gesamtes Unterrichtsmaterial dort für die Schülerinnen und Schüler hochgeladen. Wer krank ist, kann so selbstständig Inhalte nacharbeiten. Wenn jemand etwas nicht richtig verstanden hat, kann er dort alles nochmal nachlesen. Auch Zusatzangebote können auf den Plattformen hochgeladen werden, wenn jemand bestimmte Dinge noch üben möchte. Auch für Nachhilfelehrer und Eltern ist es eine große Hilfe, wenn sie sich das Unterrichtsmaterial dort ansehen können, um zielgerichtet mit den Kindern nachzuarbeiten.

Wie kann verhindert werden, dass Schüler*innen mit schlechteren technischen Voraussetzungen benachteiligt werden?

Das darf natürlich nicht passieren. Die digitalen Angebote müssen an den Möglichkeiten, sie zu nutzen, ausgerichtet werden. An unserer Schule bekommt jeder Schüler den gleichen Laptop gestellt. Das ist natürlich der Idealfall. Es fängt aber schon bei kleinen Dingen an. Zum Beispiel ist es ganz wichtig, dass jede Lehrerin und jeder Lehrer eine E-Mail-Adresse hat, damit er auch für die Schüler erreichbar ist. Bei Schülern, die sich zuhause einen Laptop teilen, sollten die Lehrer dann auch die Flexibilität haben, im Homeschooling individuelle Zeiten auszumachen, in denen sie Fragen beantworten. Es kann ja sein, dass der Computer zur eigentlichen Unterrichtszeit gerade von einem Geschwisterkind benutzt wird. Diese Bedürfnisse müssen Schulen und Lehrer wahrnehmen. Das ist nicht immer leicht, aber extrem wichtig. Lehrer, Schüler, Eltern und Schulleitungen müssen da eng zusammenarbeiten.

Welche Unterstützung brauchen Schulen dabei?

Die Corona-Pandemie ist ein lautes Warnsignal, dass viele Schulen bei der Digitalisierung um Jahrzehnte hinterherhinken. Das müssen wir dringend ändern. Dabei geht es mir nicht um Aktionismus, dass eine Schule etwa 500 Laptops anschafft und erst hinterher guckt, wie sie die eigentlich verteilen soll. Es geht erstmal um so simple Dinge, dass alle Lehrer und alle Schüler eine Schul-E-Mail-Adresse haben und sie auch nutzen. Die Politik muss dafür sorgen, dass die digitale Ausstattung der Schulen gut ist. Deshalb muss der Digitalpakt von Bund und Ländern auch beschleunigt werden. So wie gewährleistet sein muss, dass sich jeder Schüler seine Bücher in der Schule ausleiht, muss er auch digitale Angebote ausleihen können. Gute Beispiel gibt es genug.

Wenn es zu erneuten Schulschließungen kommen sollte: Welche Lehren sollten aus dem Frühjahr gezogen werden?

Die Schulen und die Lehrer müssten viel besser mit den Schülern kommunizieren als im Frühjahr. Die Schulschließungen kamen ja sehr schnell und als alle zuhause waren, wusste keiner so recht, wie es weitergeht. So etwas darf nicht wieder passieren. Die Spannung der ersten Wochen, in denen der Unterricht per Videoschalte etwas Besonderes war, ist auch schnell verflogen. Die meisten sind heute froh, wenn sie keine Videokonferenz machen müssen. Hinzu kommt, dass Homeoffice und Beschulung der Kinder zuhause für die Eltern extrem stressig sind. Solche Situationen sollten wir in Zukunft dringend versuchen zu vermeiden. Wenn Schulen direkt zu Anfang klare Strukturen setzen und Anforderungen formulieren, entspannt das die Situation für alle Beteiligten.

 

Das Interview ist zuerst auf vorwärts.de erschienen.

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