Städtebau

Wie lebenswerter und bezahlbarer Wohnraum entstehen kann – nicht nur für Flüchtlinge

Karin Billanitsch09. Dezember 2015
Das Hauptgebäude der Leibnitz-Universität Hannover
Das Hauptgebäude der Leibnitz-Universität Hannover
Studenten aus Hannover haben sich Gedanken gemacht, wie jenseits von Containern lebenswerte und bezahlbare Unterkünfte gebaut werden können. Erst nur für Flüchtlinge, doch die Pläne sich weiter gediehen.

Der leere Raum auf Flachdächern oder ungenutzten obersten Parkdecks, ungenutzte Grundstücke in Schrebergärten, stillgelegte Eisenbahnstrecken und Eisenbahnwaggons: Das sind die ungewöhnlichen Orte, die es den Architekturstudenten von Professor Jörg Friedrich an der Fakultät für Architektur und Landschaft der Leibnitz-Universität Hannover angetan haben. „Das Projekt ‚Refugees Welcome‘ stellt die Aufgabe, lebenswert und bezahlbar für Flüchtlinge Unterkünfte zu bauen, jenseits von Container-Unterkünften“, sagt der wissenschaftliche Mitarbeiter und Architekt Peter Haslinger.

Bezahlbarer Wohnraum für Flüchtlinge und andere

„Wir haben das Projekt vor über ­einem Jahr begonnen, zunächst mit Blick auf Flüchtlinge. Doch geht es nicht unbedingt nur um Flüchtlingsunterbringung, sondern darum, bezahlbaren Wohnraum für alle zu schaffen“, erläutert Haslinger. Wenn man kreativ denke, gebe es sehr viel Potenzial in der Stadt. Die Studenten sollten zunächst einmal Visionen ohne Denkbarrieren entwickeln. „Wir wollen für den mittelfristigen Bedarf nachhaltige Lösungen anbieten“, sagt Haslinger.

Auch die Politik hat erkannt, dass die Wohnungswirtschaft vor der riesigen Herausforderung steht, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, vor allem in attraktiven, urbanen Zentren. So haben in NRW vor kurzem das Ministerium für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr (MBWSV) und das „Bündnis für Wohnen“ der Wohnungswirtschaft ­eine Wohnungsbauoffensive gestartet. 120 000 neue Wohnungen sind das Ziel. Bauminster Michael Groschek sprich sich für einen neuen Baugebietstyp „urbanes Gebiet“ aus.

Das „urbane Gebiet“ als Spielraum für neue städtebauliche Lösungen

„Die europäische Stadt war und ist durch Dichte und Mischung gekennzeichnet. Mischung meint sowohl die funktionale Mischung – also das Nebeneinander von unterschiedlichen Nutzungen – als auch die soziale Mischung“, sagt Groschek. Die rechtlichen Rahmenbedingungen ermöglichten bislang aber nur eingeschränkt das Nebeneinander von Wohnen und Gewerbe, so der Minister. „Damit wird der Bau zusätzlicher Wohnungen in urbanen Zentren oft erschwert.“

Ein neuer Baugebietstyp „urbanes ­Gebiet“ könne hier für Abhilfe sorgen. Groschek: „Es eröffnet Optionen für mehr Spielraum für Lösungen vor Ort, um zusätzliches Bauland zu schaffen, ­eine weitere funktionale Mischung und eine höhere bauliche Dichte als in den bereits heute möglichen Mischgebieten zu ermöglichen. Mit diesem Baulandgewinn bekommen unsere Großstädte mehr Handlungsoptionen“. Allerdings sollen nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholt werden. „In vielen Siedlungen der 60er und 70er Jahre wurden zwar hohe bauliche Dichten erreicht, ohne jedoch gleichzeitig die Durchmischung der unterschiedlichen Nutzungen im Blick zu haben und damit auch den unterschiedlichen Anforderungen an Stadt gerecht zu werden. Das neue Baugebiet verfolgt beides: Dichte und Mischung“, so Groschek.

Mit serieller Fertigung variabler bauen

Nicht Randzonen bebauen, sondern eingebettet in die Infrastruktur der Städte Nischen finden, nachverdichten und höher bauen: Genau das ist das Ziel der Studenten in Hannover. Sie entwickeln bewegliche Module und Einheiten, mit denen „Normierung und serielle Fertigung, aber gleichzeitig auch Varianz“ erreicht werden, erläutert Architekt ­Haslinger.

Entwurf für Modulbauten der Studenten von der Uni Hannover
Entwurf für Modulbauten der Studenten von der Uni Hannover

Beispiel Parkdecks: „Die obersten zwei, drei Etagen werden kaum genutzt, weil die Wege zu weit sind.“ An zwei Beispielen in Hannover soll gezeigt werden, wie man mit beweglichen Wohnmodulen Nutzungen „stapeln“ kann: Unten Parkhaus, oben Wohnräume, die man vergrößern oder verkleinern kann, nach Bedarf. „Es gibt verschiedene Systeme und Materialien, die wir untersuchen; wir sind in Kontakt mit der Industrie, zum Beispiel mit Holzbauern. Drei bis vier Prototypen wollen wir selbst bauen und unsere Erfahrung weitergeben. So soll ein Prototyp für Dachaufbauten auf das Dach der Architekturfakultät gestellt werden. Haslinger ist überzeugt: Im Rahmen eines kommunalen Unterbringungskonzeptes können die Entwürfe der Hannoveraner Projektgruppe eine Rolle spielen. Container sind teuer und mittlerweile nicht zu bekommen“, erklärt er. „Wir zeigen ­Wege auf, wie es auch anders geht.“

Keine Abstriche beim Brandschutz

Viele Akteure im Wohnungsbau fordern darüber hinaus, rechtliche Vorgaben, die das Bauen verteuern oder verzögern, zu überarbeiten. Allerdings ist der Baustandard beim Neubau von geförderten Flüchtlingswohnungen etwa in NRW bereits an einzelnen Stellen abgesenkt worden, sagt Bauminister Michael Groschek. Er nennt ein Beispiel: So müssten Investoren bei der Schaffung von neuem Wohnraum nicht zwangsläufig die heute geforderten Balkone anbringen, sondern nur entsprechende technische Vorbereitungen zur Nachrüstung treffen.

„Beim Brandschutz oder der Gefahrenabwehr werden dagegen weiterhin keine Abstriche gemacht“, unterstrich der Minister. Darüber hinaus begrüßte er den Entschluss der Bauministerkonferenz in Dresden Ende Oktober, dass ­eine strukturelle Neukonzeption der Energieeinsparverordnung (EnEV) und des ­Erneuerbare-Energien-Wärmegesetzes (EEWärmeG) im Jahr 2016 notwendig seien. „Wir wollen Klimaschutz und bezahlbares Wohnen besser miteinander in Einklang bringen“, so Groschek.

 

Weitere Informationen
„Refugees Welcome – Konzepte für eine menschenwürdige Architektur“, Hg. Jürgen Friedrich, Simon Takasaki, Peter Haslinger, Oliver Thiedmann, Christoph Borchers. Jovis Verlag, 2015