Berlins Regierender Bürgermeister vor Gericht

Neutralitätsgebot: Was Amtsträger sagen dürfen

Carl-Friedrich Höck16. Januar 2019
Anti-AfD-Kundgebung am 27. Mai 2018 in Berlin: War das Lob für die Demo mit dem Neutralitätsgebot vereinbar?
Das Berliner Verfassungsgericht verhandelt heute darüber, ob ein Tweet von Berlins Regierungschef rechtswidrig war. Michael Müller hatte sich im Mai positiv über eine Demo „gegen Rassismus und menschenfeindliche Hetze” geäußert. Das Neutralitätsgebot gilt auch für Kommunalpolitiker – und führt immer wieder zu Rechtsstreitigkeiten.

Es sind nur zwei Sätze, aber dem Regierenden Bürgermeister von Berlin haben sie viel Ärger eingebrockt. Michael Müller (SPD) schickte sie am 27. Mai 2018 als Tweet in die Welt: „Zehntausende in Berlin heute auf der Straße, vor dem Brandenburger Tor und auf dem Wasser. Was für ein eindrucksvolles Signal für Demokratie und Freiheit, gegen Rassismus und menschenfeindliche Hetze.“

Rund 25.000 Menschen waren an diesem Tag auf die Straße gegangen, um ein Zeichen gegen eine zeitgleich stattfindende AfD-Kundgebung zu setzen. Gleich 13 Gegenveranstaltungen waren angemeldet, unter anderem unter dem Motto „Stoppt den Hass! Stoppt die AfD“.

Amtsträger sollen nicht in demokratische Willensbildung eingreifen

Bundesverfassungsgericht
(c) Ute Grabowsky / photothek.net

An diesem Mittwoch verhandelt das Berliner Verfassungsgericht, ob der Tweet des Regierenden Bürgermeisters gegen das sogenannte Neutralitäts- oder auch Sachlichkeitsgebot verstoßen hat. Die AfD als Klägerin argumentiert, die positive Würdigung der Gegendemo sei zugleich eine unzulässige Kritik an der AfD. Weil der Regierende Bürgermeister seinen offiziellen Twitteraccount verwendet hat, habe er sich in seiner amtlichen Funktion geäußert. Müller hält dagegen, der Tweet habe gar keinen ausreichenden Bezug zur AfD gehabt. Er habe ein allgemeines politisches Anliegen der Demonstrierenden gewürdigt, das über den Protest gegen die AfD-Kundgebung hinausgehe.

Die Idee hinter dem Neutralitätsgebot: Die politische Willensbildung in der Demokratie soll sich von unten nach oben vollziehen, also vom Volk zu den Staatsorganen. Die Autorität des Amtes und die damit verbundenen Mittel – etwa Steuergelder und Personal – sollen nicht missbraucht werden, um diesen Prozess umzukehren. Deswegen sollen sich Amtsträger nur mit Sachargumenten zu politischen Debatten äußern.

Michael Müller ist nicht der erste Politiker, der sich für Äußerungen vor Gericht rechtfertigen muss. Für Schlagzeilen sorgte zuletzt etwa ein Fall aus Düsseldorf.

Düsseldorfs OB, Dügida und das Neutralitätsgebot

Das Bundesverwaltungsgericht hat am 13. September 2017 entschieden, dass eine Äußerung des Düsseldorfer Oberbürgermeisters rechtswidrig war. Thomas Geisel (SPD) hatte sich im Januar 2015 mit einem Text auf der Internetseite der Stadt gegen eine Demonstration der rechtspopulistischen „Dügida“-Bewegung positioniert. Geisel rief Bürger und Unternehmen auf, als „Zeichen gegen Intoleranz und Rassismus“ die Beleuchtung ihrer Gebäude auszuschalten und an einer Gegendemo „für Demokratie und Vielfalt“ teilzunehmen. „Das ist das richtige Signal, dass in Düsseldorf kein Platz für das Schüren dumpfer Ängste und Ressentiments ist“, schrieb der Oberbürgermeister damals.

Das Bundesverwaltungsgericht sah das Sachlichkeitsgebot verletzt. „Der Aufruf verfolgte das Ziel, die Versammlung der Klägerin in ihrer Wirkung zu schwächen und die Gegendemonstration zu stärken“, so das Gericht. „Er greift unzulässig in den Wettstreit der politischen Meinungen ein und nimmt lenkenden Einfluss auf die Grundrechtsausübung der Bürger.“

Außerdem stellte das Gericht klar: „Ein Amtswalter, der am politischen Diskurs teilnimmt, hat (…) seine Äußerungen an dem Gebot eines rationalen und sachlichen Diskurses auszurichten. Das schließt eine Meinungskundgabe durch symbolische Handlungen nicht aus, fordert aber den Austausch rationaler Argumente, die die Ebene argumentativer Auseinandersetzung nicht verlassen. Staatliche Amtsträger dürfen ferner in der öffentlichen Diskussion Vertreter anderer Meinungen weder ausgrenzen noch gezielt diskreditieren, solange deren Positionen die für alle geltenden rechtlichen Grenzen nicht überschreiten, namentlich nicht die allgemeinen Strafgesetze verletzen.“ (Zum Urteil)

Weitere Gerichtsentscheidungen zum Neutralitätsgebot

Wie weit das Neutralitätsgebot für Kommunal- und Bundespolitiker reicht, damit befassen sich Richter immer wieder aufs Neue. Weitere Beispiele:

  • Unter dem Motto „Rote Karte für Merkel“ hat die AfD im Jahr 2015 eine Versammlung abgehalten. Darauf reagierte die damalige Bundesbildungsministerin Johanna Wanka mit einer Pressemitteilung. „Die rote Karte sollte der AfD und nicht der Bundeskanzlerin gezeigt werden“, schrieb die Ministerin und warf dem AfD-Politiker Björn Höcke vor, der Radikalisierung der Gesellschaft Vorschub zu leisten. Das war rechtswidrig, entschied das Bundesverfassungsgericht. Zwar dürfe die Regierung Kritik an ihrer Arbeit sachlich zurückweisen, sie dürfe aber nicht zum Gegenschlag ausholen.
  • Zulässig war dagegen die Äußerung der damaligen Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig, die in einem Zeitungsinterview 2014 sagte: „Ziel Nummer 1 muss sein, dass die NPD nicht in den Landtag kommt.“ Schwesig habe keine amtliche Autorität in Anspruch genommen und sich nicht als Mitglied der Bundesregierung geäußert, urteilte das Bundesverfassungsgericht.
  • Auch mit einer Klage gegen den Bundespräsidenten Joachim Gauck scheiterte die NPD im Jahr 2014. Gauck hatte auf einer öffentlichen Veranstaltung zu einem möglichen Verbot der NPD gesagt: „Wir können die Partei verbieten, aber die Spinner und die Ideologen und die Fanatiker, die haben wir dann nicht aus der Welt geschafft.“ Das Bundesverfassungsgericht wertete die Wörter Spinner, Ideologen und Fanatiker – im Kontext der Aussage – als Sammelbegriffe für Menschen, die für rechtsradikale und antidemokratische Überzeugungen eintreten.
  • Im Jahr 2010 rief der damalige Oberbürgermeister von Gera, Norbert Vornehm (SPD), zum Protest gegen ein Rechtsrockkonzert der NPD auf. Der Aufruf wurde im „Kommunalen Anzeiger“ veröffentlicht. Die NPD setzte vor dem Verwaltungsgericht Gera per Eilverfahren eine Einstweilige Anordnung durch, derartige Aufrufe zu unterlassen. Die Äußerung im Stadtblatt sei nicht als private Meinungsäußerung zu werten, so das Gericht.

Amt oder nicht Amt? – Das ist die Frage

Wann und wo müssen sich Minister und Bürgermeister an das Neutralitätsgebot halten? In einer Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages heißt es: „Problematisch sind nur Äußerungen, die ein Hoheitsträger in seiner hoheitlichen Funktion tätigt. Spricht er dagegen als Bürger, insbesondere als Parteipolitiker, bedarf es keiner besonderen Beschränkungen.“

Ein Amtsbezug ist zum Beispiel dann gegeben,

  • wenn der Sprecher ausdrücklich auf sein Amt Bezug nimmt,
  • wenn die Äußerung auf der Internetseite eines Ministeriums oder einer Stadtverwaltung publiziert wird,
  • oder wenn sie in Amtsräumen getätigt wird.

Heikel ist insbesondere, wenn sich ein Amtsträger sich zugunsten der eigenen oder zulasten einer anderen Partei äußert. „Diffamierende Äußerungen und Werturteile, denen sachfremde Erwägungen zugrunde liegen, sind unzulässig“, schreibt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages. Auch Äußerungen über Gruppen und Personen unterlägen bestimmten Auflagen. Wenn etwa Bürger durch den Aufruf eines Hoheitsträgers von der Teilnahme an einer Versammlung abgeschreckt würden, beeinträchtige das die Ausübung der Grundrechte.

 

Nachtrag:
Müller-Tweet: AfD unterliegt vor Gericht (Artikel vom 20. Februar 2019)

weiterführender Artikel