Blickpunkt Umweltgerechtigkeit

Umsteuern im Stadtverkehr

Susanne Dohrn 03. Juli 2018
Wilhelmsburger Reichsstraße
Der breite Sandstreifen verrät: Hier verläuft die neue Wilhelmsburger Reichsstraße – im Hintergrund die Bahnschienen und die neuen hohen Lärmschutzwände.
Eine Straße verschwindet, Busse fahren führerlos und Autos langsamer – eine umweltfreundlichere Stadt ist nicht nur gesünder für alle ihre Bewohner, sie kann auch für mehr sozialen Ausgleich sorgen. Beispiele aus Hamburg.

Manche nennen sie Hamburgs heimliche Stadtautobahn. Vierspurig, laut und nahezu unüberwindbar schlägt die Wilhelmsburger Reichsstraße eine Schneise mitten durch das grüne Zentrum der Elbinsel. Mehr als 60.000 Fahrzeuge passieren sie täglich. Selbst den Inselpark trennt die vierspurige Straße in zwei Teile. Wer von einer Seite auf die andere will, muss über eine hohe Brücke steigen. Mit alldem soll demnächst Schluss sein. „Die alte Straße kommt komplett weg und wird Park“, sagt Michael Weinreich, der als SPD-Abgeordneter den Stadtteil in der Hamburger Bürgerschaft seit 2015 vertritt. Im verkehrsumtosten grünen Zentrum der Elbinsel wird es still werden. Der Straßenlärm zieht um, dorthin, wo es ohnehin schon laut ist: an die Bahngleise.

Szenenwechsel: eine Nebenstraße im Bezirk Eimsbüttel. Links und rechts der Fahrbahn parken Autos. Sie nehmen die Hälfte der Straßenfläche ein. Auf den Bürgersteigen ist kaum Platz für die Tische und Stühle der Cafés. Ab und zu fährt mit viel Lärm ein Müll- oder ein Lieferwagen vorbei. Dann brechen die Gespräche für eine kurze Weile ab, man hört sein eigenes Wort nicht mehr. Dr. Philine Gaffron kommt mit dem Faltrad, sie wohnt nicht weit von hier. Die Wissenschaftlerin am Institut für Verkehrsplanung und Logistik der Technischen Universität Hamburg (TUHH) erforscht seit vielen Jahren das Thema Umwelt­gerechtigkeit und Verkehr, in Großbritannien, den USA und in Hamburg. „Wie viel Platz wäre hier, wenn an dieser Straße keine Autos führen, wie schön wären die Plätze in unserer Stadt“, sagt sie. Sie besitzt, wie viele jüngere Hamburgerinnen und Hamburger, kein eigenes Auto.

Weniger Miete, mehr Lärm und Abgase

Philine Gaffron führt zu einer vierspurigen, vielbefahrenen Ausfallstraße nur wenige Straßenecken entfernt vom Café. Wer hier lebt, zahlt zwar weniger Miete, muss dafür aber sehr viel mehr Lärm, Abgase und Feinstaub ertragen als die Bewohner in den Nebenstraßen. Die Verkehrsforscherin hat die Daten für die Stadt Hamburg analysiert. Ihr Ergebnis: „Die lokalen, negativen Auswirkungen von Straßenverkehr sind ungleich verteilt. Bestimmte Bevölkerungsgruppen leben eher in von Verkehrslärm belasteten Gebieten als andere.“ Generell gelte: „Je niedriger das Einkommen, desto höher ist die Lärmbelastung.“ Wissenschaftlich erwiesen sei: Vor allem nachts verursache zu viel Lärm gesundheitliche Störungen, weil er die Schlaftiefe verringere oder dazu führe, dass man häufiger aufwache.

Der Politiker und die Wissenschaftlerin – beide wollen sie Hamburg umweltfreundlicher und damit gerechter machen. In Wilhelmsburg werden dafür gerade Millionen bewegt – an ­Euros und an Tonnen von Baumaterialien für die neue Straße. Wo Güterwaggons über die Gleise zum Hamburger Hafen rattern, S-Bahnen und Fernverkehrszüge vorbeisausen, entsteht parallel zu den Schienen die neue Wilhelmsburger Reichsstraße. Den Lärm bündeln, lautet das Konzept, das auch Verkehrsplanerin Philine Gaffron für sinnvoll hält, weil so zwei Lärmquellen zusammenlegt werden. Hinzu kommt ein besserer Schutz vor Schienen- und Straßenlärm. Michael Weinreich, der Bürgerschaftsabgeordnete erklärt. „Die Lärmschutzwände waren hier früher mit 1,0 bis 1,5 Metern Höhe völlig ineffektiv. Weil man Bahngleise verlegen musste, um Platz für die Straße zu schaffen, galt für diesen Teil der Bahntrasse ein neues Planungsrecht. Nun sind die Wände 4,0 bis 4,5 Meter hoch.“ Für die Anlieger wird es ruhiger und damit auch ein Stück umwelt­gerechter.

Industrie statt Wasseridylle

Eigentlich ist die Elbinsel ein Kleinod. Nur wenige S-Bahnminuten vom Hamburger Hauptbahnhof entfernt, ist sie von Kanälen durchzogen und bewachsen mit alten Bäumen, hinter denen mit Seerosen bedeckte Teiche schimmern, ideal zum innenstadtnahen Wohnen am Wasser. Stattdessen prägten jahrzehntelang Industrie und Verkehr das Bild. Wegen der unmittelbaren Nähe zum Hafen siedelten sich hier ab Mitte des 19. Jahrhunderts Industrieunternehmen an. Auf den Kanälen, Straßen und Bahngleisen wurden Güter in die Stadt und den Hafen transportiert, Arbeiterwohnungen entstanden, später in den 1970er Jahren auch öffentlich geförderte Hochhaussiedlungen und damit ein ungesunder Mix aus Industrie, Verkehr und Tausenden Sozialwohnungen. Wer es sich leisten konnte, zog weg. Wilhelmsburg entwickelte sich zum sozialen Brennpunkt. Das Umsteuern begann um die Jahrtausendwende. 2001/2002 fand auf Beschluss der Hamburger Bürgerschaft die Zukunftskonferenz Wilhelmsburg statt, während der mehr als 100 Wilhelmsburger Bürger, Vertreter von Vereinen, der Stadt und Fachleute ein Konzept für die „Insel im Fluss entwickelten“.

„In dieser Konferenz tauchte zum ersten Mal die Idee der Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße auf“, erklärt Weinreich. Sie werde, so der Plan, eine qualifizierte städtebauliche Entwicklung der Wilhelmsburger Mitte ermöglichen mit neuem Wohnen im bewährten Hamburger Mix: ein Drittel Eigentum, ein Drittel Mietwohnungen und ein Drittel geförderte Wohnungen – und damit endlich auch mehr „soziale Durchmischung, wie es die Wilhelmsburger immer gefordert haben“, sagt Weinreich. „Wir brauchen in unseren Schulen starke Kinder, die die anderen mitziehen“, sagt der Politiker. So könnte die Verlegung einer Straße nicht nur zu weniger Lärm, sondern auch zu mehr Chancen für die bislang Chancenarmen führen.

Es ist laut und stickig

Cafébesucher in Eimsbüttel
Cafébesucher in Eimsbüttel und ein breiter Fahrradstreifen: Eine umweltgerechtere Stadt ist auch eine lebenswertere Stadt.

Wie Verkehrslärm sich ausbreitet, wird mit Modellrechnungen ermittelt. Ist es zu laut, helfen Schallschutzfenster, aber einen Anspruch gibt es nur in Neubaugebieten oder wenn Straßen und Schienenwege neu gebaut werden. Zudem ist Lärm trickreich: Gegen den Wind breitet er sich langsamer aus als mit dem Wind, feuchte Luft leitet Schallwellen besser als trockne. Hinzu kommt: „Anders als bei der Luftbelastung werden die Lärmquellen – Verkehr, Gewerbe, Schiene, Flugzeuge – einzeln modelliert“, sagt Gaffron. „Es gibt keine bindenden Grenzwerte für alle Lärmquellen zusammen.“ Addiere man die Daten, kämen für viele Wohnstandorte in Hamburg deutlich höhere Lärmbelastungen heraus, als die von der Weltgesundheitsorganisa­tion (WHO) empfohlenen Schwellenwerte von 65 dB(A) tags und 55 dB(A) nachts. Die Belastung eines Schallpegels für das Ohr wird in der Einheit Dezibel (A-Bewertung) angegeben.

Lärm hat oft einen Begleiter. Er heißt schlechte Luft. Abgase von Autos sorgen für eine höhere Belastung mit Stickoxiden, die die Schleimhäute angreifen und die Atemwege reizen. Bei jedem Bremsen werden zudem Reifen und Bremsbeläge abgeschliffen und landen als Feinstaub in der Luft. Immer höhere Einspritzdrücke bei Motoren sorgen für einen Anstieg feiner und ultrafeiner Stäube in den Abgasen, die über die Lunge in die Blutbahn gelangen und beispielsweise Allergien, Asthma oder Krebs auslösen können. „Die EU hat für diese Kleinst-Partikel ­einen Grenzwert eingeführt, aber er liegt doppelt so hoch wie der von der WHO empfohlene“, sagt Gaffron.

Runter mit dem Tempo

„Eine umweltgerechte Stadt muss dafür sorgen, dass die Atemluft nicht auf ­Dauer krankmacht, dass der Lärm akzeptable Werte nicht überschreitet und es überall in der Stadt attraktive Freiräume gibt“, lautet die Forderung der Verkehrsforscherin. Sie empfiehlt flächendeckend Tempo 30, mit Ausnahme einiger Ausfallstraßen, auf denen 40 oder 50 gefahren werden dürfe. Das hätte weniger Unfällen zur Folge, würde den Bremsweg von 28 auf 13 Meter verkürzen, das Sicherheitsempfinden steigern und die Emissionen senken. Die Bezirke sollten, wenigstens auf einigen Nebenstraßen, das Prinzip des „Shared Space“ einführen: keine Straßenschilder, keine Parkplätze, keine Fuß- und Radwege, alle Verkehrsteilnehmer haben die gleichen Rechte. „Die Erfahrungen zeigen, dass es weniger schwere Unfälle gibt und die Emissionen sinken.“ Dazu ­attraktive Fahrradwege, die auch im Winter geräumt werden, emissionsfreier Nahverkehr und vielleicht doch wieder eine Straßenbahn – die in Hamburg bis 1978 in Betrieb war.

Auch neue Technik könnte den Umstieg vom Auto auf die Öffentlichen erleichtern. Ab Januar 2019 sollen in Lauen­burg, einer Kleinstadt östlich von Hamburg, zwischen Omnibusbahnhof (ZOB) und dem Rathaus selbstfahrende Elektrobusse unterwegs sein – ein Projekt das die TUHH ebenfalls betreut. „Autonome Busse können nachfrageorientiert die Außen­bezirke bedienen, wo sich ein regelmäßiger ÖPNV nicht lohnt“, so ­Gaffron. Alles zusammen läuft auf eins hinaus: weniger motorisierten Individualverkehr und damit einen Zugewinn von guter Luft und attraktivem Stadtraum. Für die Hafencity hat Gaffron ausgerechnet, wie viel Platz allein die derzeit 26.000 geplanten Stellplätze für ­Autos verbrauchen. Es ist eine Fläche von 67 Fußballfeldern.