Blog 100 Jahre Weimarer Verfassung

1919: Ein Marathon demokratischer Wahlen

Klaus Wettig06. Februar 2019
Das erste Quartal 1919 brachte einen Wahlmarathon, in dem sich das neue vom revolutionären Rat der Volksbeauftragten verordnete demokratische Wahlrecht zu bewähren hatte. Die Kommunal und Landespolitik erhielt fortan einen anderen Stellenwert für die SPD

Demokratisch waren die Wahlen im Kaiserreich nicht gewesen. Die Wahlen sollten erstens allgemein sein: Erstmals durften Frauen wählen und sie konnten auch gewählt werden. Auch Soldaten durften wählen, was ihnen bisher verwehrt war, ebenso erhielten Fürsorgeempfänger das Wahlrecht. Die Wahlen sollten ferner unmittelbar sein, womit das Wahlmännersystem in Preußen und einigen weiteren Ländern beseitigt wurde. Über das Wahlmännersystem war die SPD bis 1919 benachteiligt.

Wahlen sollten frei und gleich sein

Die Wahlen sollten darüber hinaus frei sein, damit wurden die offenen und verdeckten Diskriminierungen durch die staatlichen Behörden, vor allem durch die Polizei, beseitigt, die in erster Linie die SPD trafen, aber auch die Parteien der Welfen und nationalen Minderheiten von Polen und Dänen, auch das katholische Zentrum hatte darunter gelitten. Die Wahlen sollten auch gleich sein, denn im Kaiserreich war selbst bei den Wahlen zum Reichstag das Wahlrecht nicht gleich gewesen. Die auf die kandidierenden Parteien entfallenen Stimmen besaßen nicht den gleichen Erfolgswert. Da ein Mehrheitswahlrecht galt, entschied der Zuschnitt der Wahlkreise über den Erfolgswert der Stimme. Die konservative Reichstagsmehrheit begrenzte bis zum Ende des Kaiserreichs das Anwachsen der SPD-Mandate, indem sie die Wahlkreise nicht veränderte.

Die ungleichen Wahlkreisgrößen zeigten im Extrem bei der Reichstagswahl 1912 die Wahlkreise Schaumburg-Lippe und Teltow-Charlottenburg. Während in Schaumburg-Lippe 12.000 Wahlberechtigte wählen konnten, waren es in Teltow-Charlottenburg 300.000. Im Durchschnitt des Reiches benötigte die SPD 39.000 Stimmen und die Konservativen 29.000 Stimmen für ein Mandat. Zusätzlich wurde die SPD durch das Erfordernis der absoluten Mehrheit für den Mandatsgewinn benachteiligt, da sich die bürgerlichen Parteien häufig zu Wahlbündnissen in der Stichwahl zusammenschlossen. So gewann die SPD in der Reichstagswahl 1907 29 Prozent der Stimmen, erhielt jedoch nur 10,8 Prozent der Mandate. Die Entscheidung für die Verhältniswahl war deshalb eine logische Konsequenz aus diesen Erfahrungen. Selbst 1918, als der Reformdruck groß war, erlaubte die Reichstagsmehrheit nur eine begrenzte Korrektur zugunsten der SPD.

Ab 1919 gilt Verhältniswahlrecht

Ab 1919 galt bei allen Wahlen das Verhältniswahlrecht, sodass das Stimmergebnis sich in die Mandatszahl korrekt umsetzen konnte. Für die Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar wurde erstmals nach dem Verhältniswahlrecht gewählt. Dafür konnten die Parteien in 38 Wahlkreisen Listen aufstellen. Das Verhältniswahlrecht galt auch für die Wahlen zu den Landtagen und kommunalen Vertretungen, was weitreichende Folgen für die Zusammensetzung dieser Parlamente hatte, denn sie waren bisher – mit wenigen Ausnahmen – durch undemokratische Wahlsysteme bestimmt worden. Die bedeutendste Diskriminierung war dabei das Dreiklassenwahlrecht in Preußen, das die männliche Wählerschaft nach dem Steueraufkommen in drei Klassen einteilte. Jede Klasse stellte die gleiche Anzahl von Abgeordneten. Wegen der Abhängigkeit vom Steueraufkommen stellten die Unternehmer, Großgrundbesitzer stets die Mehrheit der Abgeordneten. In einigen Ländern gab es Besonderheiten, nach denen der Monarch einen Teil der Landtagsabgeordneten ernannte oder besondere Berufe und Grundeigentümer bevorzugt wurden. In den beiden Mecklenburg gab es überhaupt keinen Landtag.

Die Wahlen sollten geheim sein. Eine geheime Wahl existierte bei der Reichstagswahl erst seit 1903. Erstmals konnte in Wahlkabinen gewählt werden und der Staat stellte die Stimmzettel, bis dahin mussten die Parteien die Stimmzettel stellen, was die Wahlabsicht dem Wahlvorstand offenlegte.
Bei den Landtagswahlen und für die kommunalen Vertretungen war die offene Stimmabgabe das übliche Verfahren. In Preußen erfolgte die Stimmabgabe offen, sodass der Wahlvorstand präzise über die Wahlabsicht informiert war. Wegen der zu erwartenden Sanktionen beschloss die SPD erst 1900 die Teilnahme an Landtags- und Kommunalwahlen. Sie wollte ihre Anhänger schützen. Erst 1903 beteiligte sie sich deshalb an den Landtagswahlen in Preußen.

Situation in den Ländern

Die süddeutschen Länder Baden, Bayern, Hessen-Darmstadt und Württemberg mussten ihr Wahlrecht nicht grundsätzlich ändern, da mit der Ausnahme des Frauenwahlrechts dort schon länger ein demokratisches Wahlrecht bestand. In den anderen Ländern bewirkte die Beseitigung des Klassen- und Städtewahlrechts jedoch eine veränderte Zusammensetzung der Landtage und kommunalen Vertretungen.

In Mecklenburg-Schwerin und in Mecklenburg-Strelitz wurde erstmals in der Geschichte der Länder ein Landtag gewählt. In Hamburg gewann die SPD die absolute Mehrheit in der Bürgerschaft, was SPD und USPD zusammen auch in Bremen gelang. In Sachsen erreichten SPD und USPD zusammen 57,9 Prozent. Auch in Preußen war der sozialdemokratische Aufschwung überragend: Dort hatte die SPD bis zur Revolution 10 Mandate von 443, jetzt erhielten beide Parteien 169 von 401 Sitzen. Insgesamt erfuhr die Sozialdemokratie eine außerordentliche Steigerung ihres landespolitischen Einflusses, sodass sie in den meisten Ländern auch die demokratischen Landesregierungen bilden konnte.

Große Wirkung bei den Kommunalwahlen

Eine vergleichbare Wirkung hatte das demokratische Wahlrecht bei der Wahl der kommunalen Vertretungen. Häufig war es eine Steigerung von Null auf absolute Mehrheit in den Räten und Kreistagen. Jedenfalls wurde es zur Regel, dass die SPD – mit Ausnahme der katholischen Regionen – die Mehrheitsfraktion stellte. Während bis 1919 Landes- und Kommunalpolitik nur eine geringe Rolle in der SPD gespielt hatte, erhielt sie nun einen anderen Stellenwert. Vor allem die Konzentration auf die Kommunalpolitik führte zum „kommunalen Sozialismus“ der SPD. Bei der Daseinsvorsorge im Wohnungsbau, Schulbau, Sportstätten, Kindergärten usw. leistete die Kommunal-SPD außerordentliches in der Weimarer Republik.