Blog Im Brennglas

Flüchtlingsfrage: Die Grenzen nationalstaatlicher Politik

Marian Schreier08. März 2016
Marian Schreier: Der SPD-Politiker ist mit 26 Jahren Deutschlands jüngster Bürgermeister in der Stadt Tengen in Baden-Württemberg.
Marian Schreier: Der SPD-Politiker ist mit 26 Jahren Deutschlands jüngster Bürgermeister in der Stadt Tengen in Baden-Württemberg.
2015 wird man als das Jahr erinnern, in dem die Globalisierung ein Gesicht bekam. Denn: Mit den Flüchtlingen ist die Globalisierung mit Wucht in der Lebenswirklichkeit vieler Deutscher angekommen.

Kaum eine Gemeinde, in der die Flüchtlingsthematik nicht das dominierende Thema ist. Während die Finanzkrise oder die Rettung Griechenlands zwar medial allgegenwärtig waren, so blieben sie doch vergleichsweise konturlose, jedenfalls in Deutschland kaum direkt erfahrbare Phänomene. Still ruhte der See während sich die europäischen Nachbarn in unruhigem Fahrwasser befanden. Mit mehr als einer Millionen Flüchtlingen, die 2015 in Deutschland Zuflucht gesucht haben, ist das schlagartig anders geworden. Deutschland ist zum Kristallisationspunkt der weltweiten Fluchtbewegungen geworden, zum Ziel der Sehnsucht für Hunderttausende.

Nationalstaatliches Handeln stößt an Grenzen

Am Beispiel der Flüchtlingsthematik verhandelt die deutsche Öffentlichkeit gerade den Grundkonflikt einer globalisierten Welt, der die Weichenstellungen der nächsten Jahre maßgeblich prägen wird. Sprich: Die Erfahrung, dass sich gesellschaftliche Herausforderungen erkennbar der politischen Steuerung im nationalen Rahmen entziehen, die Politik aber weiterhin vor allen Dingen in nationale Legitimationsmuster eingebettet ist.

Jürgen Habermas hat dies treffend umschrieben mit den internationalen Zusammenhängen, in die sich die Nationalstaaten immer tiefer verstricken. Anders als man vielleicht vermuten könnte, führt die zunehmend eingeschränkte Handlungsfähigkeit nationalstaatlicher Politik aber nicht zu einem Ruf nach mehr internationaler Zusammenarbeit, sondern vielmehr zu einer Regression in alte, längst überwunden geglaubte Handlungsmuster: Um Tatkraft zu simulieren, wird die Einflusssphäre des Nationalstaats rhetorisch überzeichnet. Dabei ist klar, dass sich die Flüchtlingsströme weder per Dekret noch durch nationale Alleingänge stoppen lassen.

Glaubwürdigkeitsverlust der Politik als Folge

Dies bleibt nicht folgenlos - auch und gerade für die Kommunen. In den Städten und Gemeinden lässt sich wie unter einem Brennglas beobachten, welche Folgen dieser gesellschaftliche Veränderungsprozess zeitigt. Die empfindlich begrenzte Handlungsfähigkeit macht insbesondere den Kommunen zu schaffen, da sie für die Unterbringung der Flüchtlinge verantwortlich zeichnen, gleichzeitig aber als letztes Glied in der Kette den geringsten Einfluss auf die politische Gestaltung der Flüchtlingsfrage haben.

Die kommunale Selbstverwaltung braucht aber eine handlungsfähige Politik, die ihre Spielräume zur Gestaltung der Verhältnisse vor Ort eröffnet. Andernfalls schrumpfen die Städte und Gemeinden zu bloßen Ausführungsorganen.

Mindestens ebenso dramatisch ist der Glaubwürdigkeitsverlust, der mit dieser Entwicklung einhergeht: Auf der einen Seite der wachsende Steuerungsverlust der Politik nationalstaatlicher Prägung, auf der anderen Seite nationale Lösungen, die mit Verve vorgetragen werden.

Aufgabe: Dem Wandel eine Richtung geben

Diese wachsende Kluft zwischen Handeln und Rhetorik hinterlässt eine Glaubwürdigkeitslücke, die von der Bürgerschaft mit großer Aufmerksamkeit und oft mit ebenso großer Sorge registriert wird. An die Stelle von Vertrauen tritt eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der Politik. Dies fordert die Kommunen besonders als die Ebene, die traditionell das größte Bürgervertrauen genießt und die am stärksten vom bürgerschaftlichen Engagement lebt.

Es gibt keine Patentlösung für diese Gemengelage. Im Gegenteil: Wir wissen um die Verführbarkeit demokratischer Gesellschaften in Krisenzeiten, um die Versuchung von einfachen Antworten und schnellen Schuldigen. Der Erfolg im Umgang mit der Flüchtlingsfrage wird sich nicht an der Zahl der Wohnungen oder der Beschleunigung der Asylverfahren entscheiden, sondern an der Fähigkeit der Politik, Orientierung zu geben in einem der größten Umbrüche der letzten Jahrzehnte. Die Veränderungen aufnehmen, sie zu erklären und zu strukturieren, mehr noch: dem Wandel eine Richtung geben - das ist jetzt Aufgabe von Politik.

 

Der Text ist auf vorwärts.de erschienen.