Sachsen

Nach der Oberbürgermeisterwahl in Görlitz: „Die Stadt ist zerrissen“

Kai Doering24. Juni 2019
Nach der Oberbürgermeisterwahl ist Görlitz zerrissen, sagt die SPD-Kreisvorsitzende Gerhild Kreutziger.
Nur knapp ist Görlitz nicht zur Stadt mit dem ersten AfD-Oberbürgermeister geworden – auch wegen eines breiten Bündnisses, das in der Stichwahl den CDU-Bewerber unterstützte. Wie jetzt die Stimmung in der Stadt ist, sagt die SPD-Kreisvorsitzende Gerhild Kreutziger.
Nur knapp ist Görlitz nicht zur Stadt mit dem ersten AfD-Oberbürgermeister geworden – auch wegen eines breiten Bündnisses, das in der Stichwahl den CDU-Bewerber unterstützte. Wie jetzt die Stimmung in der Stadt ist, sagt die SPD-Kreisvorsitzende Gerhild Kreutziger.

Am 16. Juni hat sich bei der Oberbürgermeister-Stichwahl in Görlitz der Bewerber der CDU nur knapp gegen den AfD-Kandidaten durchgesetzt. Wie bewerten Sie dieses Ergebnis?

Zunächst mal bin ich heilfroh, dass Görlitz keinen Oberbürgermeister von der AfD bekommen hat. Ich war sicher nicht die einzige, die diesem Wahlsonntag mit gemischten Gefühlen entgegengeblickt hat, nachdem in der ersten Runde der AfD-Bewerber vorne gelegen hatte. Als am Sonntag die Ergebnisse der Wahllokale nach und nach im Rathaus zusammengelaufen sind, sah es eine Zeit lang so aus, dass er auch die Stichwahl gewinnen könnte. Als dann am Ende Herr Ursu von der CDU vorne lag, ist mir ein Stein vorm Herzen gefallen.

Gerhild Kreutziger

Die Beteiligung bei der Stichwahl war niedriger als im ersten Wahlgang. Woran lag das?

Da kann ich nur vermuten. Mein Eindruck ist, dass vor allem Menschen, die im ersten Wahlgang ihre Stimme der Kandidatin von den Grünen oder der Linken gegeben haben, zuhause geblieben sind. Sie wollten das bunte Bündnis, das sich nach dem ersten Durchgang gebildet hatte, um einen AfD-Oberbürgermeister zu verhindern, offenbar nicht unterstützen. Das finde ich sehr schade.

Gleichzeitig hat der AfD-Kandidat trotz gesunkener Wahlbeteiligung in der Stichwahl sogar mehr Stimmen erhalten als im ersten Wahlgang. Wie schätzen Sie das ein?

Das ist etwas, das mir wirklich sehr zu schaffen macht, denn es bedeutet, dass Menschen, die vorher den Grünen oder den Linken ihre Stimme gegeben haben, in der Stichwahl zur AfD gewechselt sind. Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Allerdings hatten wir es mit einem AfD-Kandidaten zu tun, der sehr gut Menschen mobilisieren kann. Viele Wähler, die unzufrieden mit der etablierten Politik sind, hat das offenbar angesprochen. Vielleicht sind auch Menschen, die im ersten Wahlgang zu Hause  geblieben sind, von ihm mobilisiert worden.

Andere Städte haben gute Erfahrungen damit gemacht, dass sich bei der Stichwahl zuvor unterlegene Parteien auch für den Bewerber der Konkurrenz aussprechen, um einen AfD-Kandidaten zu verhindern. Warum wäre das in Görlitz fast gescheitert?

Auch ich tue mich als Sozialdemokratin schwer, einen Kandidaten der CDU zu wählen. In bestimmten Situationen geht es aber nicht anders. Die Brisanz der Situation haben in Görlitz offenbar viele nicht verstanden. Mein Eindruck ist, dass besonders frühere Grünen-Wähler in der Stichwahl für den AfD-Kandidaten gestimmt haben oder gar nicht wählen waren.

Wie ist die Stimmung in Görlitz jetzt, rund eine Woche nach Wahl?

Die Stadt ist zerrissen. Am direktesten merke ich das auf Facebook-Seiten, die sich um Görlitz drehen. Die Menschen, die dort kommentieren, zeigen ein sehr merkwürdiges Demokratieverständnis, indem sie etwa das bunte Bündnis gegen die AfD gleichsetzen mit der nationalen Front in der DDR. Für sie ist der Kampf gegen die sogenannten Altparteien die Fortsetzung der Friedlichen Revolution von 1989 und die AfD tut so, als wäre sie die Partei, die den Menschen endlich die Demokratie bringt.

Ist das ein Phänomen, das auf Görlitz begrenzt ist, oder gibt es das in ganz Sachsen?

Aus meiner Sicht spielt Görlitz da schon eine besondere Rolle. Unsere Stadt war ja schon zu DDR-Zeiten eher abgehängt und ein Ort direkt an der Grenze. Die Wende hat in Görlitz eigentlich so gar nicht stattgefunden. Etwas überspitzt sage ich meistens: Während überall in der DDR 1989 die Menschen demonstrierend für Freiheit und Demokratie auf die Straße gegangen sind, sind sie in Görlitz noch mit Kerzen ums Rathaus gezogen, um ihre Ausreiseanträge durchzusetzen. Zwar hat es auch hier einen Runden Tisch gegeben, aber die Situation, in der DDR-Regierende den Menschen Rede und Antwort für ihre Benachteiligung im Sozialismus stehen mussten, hat es in Görlitz nicht bzw. zumindest nicht ausreichend gegeben. Das hat aus meiner Sicht schon Einfluss auf die Gegenwart, indem manche denken, die Revolution von 1989 müsse jetzt zu Ende geführt werden.

Was bedeutet das für den anstehenden Landtagswahlkampf?

Die Konstellation in Görlitz ist sehr schwierig. Der Bürgermeisterkandidat der AfD tritt nun bei der Landtagswahl an. Dasselbe gilt für die Kandidatin der Grünen. Kandidat der CDU ist Ministerpräsident Michael Kretschmer. Da wird es interessant, wer wem Stimmen abnimmt, denn anders als bei der Oberbürgermeisterwahl reicht ja schon die einfache Mehrheit, um das Direktmandat zu holen. Allerdings reicht der Wahlkreis bei der Landtagswahl über die Stadtgrenze von Görlitz ins ländliche Umland hinaus. Das könnte möglicherweise einen Ausschlag geben.

Das Interview ist auf vorwaerts.de erschienen.

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